»Die immer wieder übelmachende Wirkung des Lauen.«
Thea Sternheim: Religion und Literatur
Am 20. August 1937 notiert Thea Sternheim in ihr Tagebuch: »Nur zwei Dinge besitze ich wirklich auf dieser Welt: Meine Sehnsucht ins Himmlische, meine Lust am Schöpferischen.« Das Himmlische und das Schöpferische: Beides hat sie zeitlebens und jenseits der vielen familiären und politischen Katastrophen, die sie zu erleben gezwungen war, bewegt und geprägt – und von hier aus ist Thea Sternheim zu verstehen, ihre geistige Existenz ebenso wie wichtige Entscheidungen, Nichtentscheidungen und Reaktionen im Biographischen. So hat sie es, um nur ein Beispiel zu nennen, nur deshalb so lange bei dem in vielerlei Hinsicht unausstehlichen und zunehmend größenwahnsinnigen Carl Sternheim ausgehalten, weil sie nicht nur den Mann, sondern ebenso sehr das Schöpferische in ihm geliebt hat. Als sie den Mann nicht mehr lieben konnte, fühlte sie sich diesem Schöpferischen immer noch verbunden und verpflichtet. Die Scheidung verlangen und die Bastille stürmen »La bastille est prise!«, schreibt Th. St. am Tag ihrer Scheidung (TB 25. 11. 1927). konnte sie erst, als sie erkennen musste, dass auch in schöpferischer Hinsicht nichts Wesentliches mehr von ihm zu erwarten war. Am 12. 10. 1925, zwei Jahre vor der Scheidung, gesteht sie sich ihre Enttäuschung nicht nur über ihn, sondern auch über seine letzten Stücke ein: »Könnte man vor einer fruchtbaren Tatsache so auf der Flucht sein, wie ich vor Karl auf der Flucht bin. Zöge das wirklich Schöpferische mich nicht unwiderstehlich an?« Und in weitem Rückblick: »Schliesslich war das, was ich auch heute noch in Sternheim liebe seine schöpferische Seite.« (TB 15. 4. 1967).
Den zwei wichtigsten »Dingen« im Leben Thea Sternheims soll hier nachgegangen werden. Was die Lust am Schöpferischen angeht, so wird hier allerdings nicht von Thea Sternheims eigener schöpferischer Tätigkeit, dem Schreiben der ›Sackgassen‹ etwa, die Rede sein, sondern von der eher passiven Lust an der schöpferischen Hervorbringung anderer, genauer: von Thea Sternheims Rezeption von Literatur. Die Leitfragen für unsere Darstellung der »zwei Dinge« Thea Sternheims sind demnach: Wie lässt sich ihre religiöse Haltung bestimmen, wie entwickelt sie sich? Was und wie hat sie gelesen, was hat sie warum geschätzt oder verworfen – und was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Beginnen wir mit der Religion. Über sie zu sprechen, fiel Thea Sternheim immer schwer: »Gewiss«, schreibt die bald Siebzigjährige, »kann ich ihm [Herman de Cunsel] nicht von allem sprechen, was mich bewegt. Besonders den religiösen Erfahrungen gegenüber bin ich selbst noch so zaghaft, so tastend, dass ich sie auch vor Herman nicht zu erwähnen wage; aber von allem, was mich sonst bewegt, sage ich ihm vermutlich mehr als jedem anderen.« (TB* 12. 4. 1952). Umso mehr – und für den aufgeklärten Leser vielleicht irritierend viel – hat sie davon ihrem Tagebuch anvertraut; einen Teil dieser Aufzeichnungen hat sie allerdings in hohem Alter vor der Ablieferung der Tagebücher an das Literaturarchiv in Marbach durch Schwärzung gekürzt oder eliminiert. »Schliesslich«, so schreibt sie, »können diese für einen religiösen Menschen so selbstverständliche[n] Dinge von einem Andersveranlagten überhaupt nicht begriffen werden.« (TB 6. 2. 1969). Halten wir uns an das, was sie überliefert hat.
Ein religiöser Mensch war Thea Sternheim lebenslang. Sie wird katholisch erzogen und liebt als Kind die biblischen Geschichten (und gleichzeitig die griechische Mythologie) und Heiligenbilder, baut sich einen Hausaltar. Später erinnert sie sich an einen Allerseelentag in der Kölner Gereonskirche, an dem sich »der entscheidende Griff in mein Herz vollzog«. (TB 2. 11. 1947). Doch in den Lebenserinnerungen schreibt sie über dieses Kind: »Der Katholizismus wird, obwohl ich mich in der katholischen Vorstellungswelt wie ein Fisch im Wasser tummele, die erste Autorität, die ich zu untergraben mich anschicke. / Um diese Zeit verbietet man meines ›anarchischen Einflusses‹ halber mehreren Kindern, mit mir zu verkehren.« Ern S. 28. Und wenig später heißt es anlässlich der Erstkommunion: »Vielleicht ist Jesus überhaupt nicht Gott, denke ich weiter. Was würde das ändern? Ich liebe ihn nicht, weil er Gott und allmächtig ist, doch weil er sanft, barmherzig, grenzenlos liebenswürdig ist.« Ebd., S. 35. Damit sind gleich mehrere Momente genannt, die ihre Religiosität bis ins Alter bestimmen: das anarchische Temperament, die Distanz zur Kirche, die bald zur Ablehnung wird, und die Liebe zum irdischen, nicht zum göttlichen Jesus. Noch 1954 nennt sie das, »was wahrscheinlich mein Schicksal ist«:
Meine Liebe zu Jesus, diesem Verführer über allen Verführern. Vergeblich habe ich um den Glauben an seine Göttlichkeit gerungen – mit nie auslassender Treue habe ich sein Menschentum geliebt. […] heute wie eh ist der Menschensohn, der dem unvorstellbaren Wesen, was Gott ist[,] den erschütternden Namen ›Vater‹ gegeben hat, der König meines Herzens.
Seit ich zu denken vermag, aber schon zwölfjährig weder an seine Auferstehung noch Himmelfahrt glauben könnend, sage ich ihm:
Jesus, Dir leb ich,
Jesus, Dir sterb ich,
Jesus, Dein bin ich
im Leben und im Tode. (TB 28. 8. 1954).
Christentum ohne den zentralen Glaubensinhalt der Auferstehung? Ganz so anstößig, wie es scheint, ist das nicht, denn Thea Sternheim verstand unter ›Auferstehung‹ und ›Himmelfahrt‹ die Auferstehung des Fleisches Vgl. z. B. TB 2. 4. 1923 und 29. 3. 1970. bzw. die leibliche Aufnahme Jesu in den Himmel. Dagegen setzte sie das Zurücksinken der »reinste[n] Seele« in die ungeteilte Gottheit und fügte an: »Wir wollen, gestorben, nicht hierher zurückkehren. / Nie auferstehen! / Er hatte genug. Wir haben genug. Alles gipfelt im Tod am Kreuz.« (TB 2. 4. 1923). Die Verlockung des Christentums lag für sie nicht im Versprechen eines seligen Jenseits, sondern in der Sinnstiftung im diesseitigen Leben durch die Existenz Gottes und das Beispiel und Zeugnis des irdischen Jesus, des Menschensohns und der irdischen Maria (an deren unbefleckte Empfängnis und Himmelfahrt sie auch nicht glauben konnte). TB 29. 11. 1953. So irdisch sie Jesus sah, so ganz dem Himmlischen zugehörig sah sie Gott. Ihn im Gebet um irdische Belange anzugehen, fand sie ungehörig. Schon 1921 hatte sie notiert: »Erziehung ist, Widerwärtiges, das uns begegnet, mit sich allein auszumachen […]. Aus der Selbsterziehung emaniert dann unsere Erziehung Gott gegenüber, z. B. unsere Gebete aus den Formeln des tiefesten Utilitarismus zu heben, dem Himmlischen nur mit dem zu nahen, was wirklich des Himmlischen ist. Ihn jedoch nicht um Aufbesserung des Bankguthabens oder um zeitliche Erfolge anzugehen. Ordnung des Irdischen ist unsere Aufgabe. Dahinein gehört Sozialismus, Anpassung, Ausnützung der Umstände. Gott aber sollen wir aus all unseren Kräften, aus unserer ganzen Seele und unserem tiefsten Gemüt lieben, sagt Christus.« (TB 2. 6. 1921). Von ihm sagte sie in früheren Jahren: »Er ist ein zarter, ein barmherziger Gott. Er hat uns gemacht wie wir sind. […] Ich habe keine Angst vor Ihm. Er weiss mehr von mir als ich selbst in diesem Buch zu geben je imstande wäre.« (TB 12. 1. 1923). Doch die Glaubenszweifel, die sie schon früh und immer wieder beschäftigten, nahmen mit dem Alter zu, ohne dass sie das Religiöse, »den Sinn und Geschmack für das Unendliche« So Friedrich Schleiermachers Definition der Religion, zitiert nach Heinrich Detering: Kunstreligion und Künstlerkult, S. 17 (s. Anm. 16). verloren hätte. Der personale Gott wird zum unbekannten Gott: zur »Instanz, die ich mich nicht mehr zu kennen vermesse, aber die ich aus all meinen Kräften liebe!« (TB 24. 11. 1957). »Was glaube ich, was glaube ich nicht?«, fragte sie sich ein halbes Jahr vor ihrem Tod, ohne die Frage beantworten zu können. »Aber«, fuhr sie fort, »jedesmal wenn ich bete ist mir zu Mut als rührte ich an das Mysterium von Frieden und Ewigkeit.« (TB 29. 11. 1970).
Doch zurück zu ihrer frühen Zeit. Nach einer von religiösen Zweifeln geprägten Phase zwischen Jugend und junger Frau bedeutet der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in dem sie als eine der wenigen Intellektuellen der Zeit in keinem Moment den Aufbruch zu Großem gesehen hat, einen unerhörten Schock, der sie zurück auf das Christentum verwies: »Ich sah den Mord und wusste plötzlich wo die heilige Liebe war. Das warf mich für immer zu Christus.« (TB 19. 9. 1918). Den überall auflodernden Patriotismus und Chauvinismus konnte sie, in Deutschland und Belgien aufgewachsen und damit der französischen Kultur ebenso verbunden wie der deutschen, immer von der Einheit Europas träumend, nie teilen. In dieser Situation wurden ihr die Bergpredigt und Tolstoj zur Richtschnur. Es ist insbesondere eine kleine, damals wie heute weitgehend unbekannte und unverändert aktuelle Schrift Tolstojs, ›Christentum und Vaterlandsliebe‹, Leo N. Tolstoi: Christentum und Vaterlandsliebe, nach einer Copie des Original-Manuskripts mit Zusätzen des Verfassers aus dem Russischen übersetzt von L. A. Hauff, Berlin [1894]. die sie tief beeindruckt hat. In ihr legt Tolstoj die Unvereinbarkeit von Christentum und Patriotismus schlagend und scharf dar. Ein Leben lang hat sie diese Broschüre an Bekannte, auch Verleger, ausgeliehen und eine Massenauflage erhofft – ohne Erfolg. Im Christentum Tolstojscher Prägung wurzelt ihr entschiedener Pazifismus. 1915 schrieb sie für die ›Aktion‹ des linken Franz Pfemfert einen flammenden Artikel zu Tolstoj. Ausgehend von der Unvereinbarkeit von Christentum und nationalistischem Vaterland und dem für Christen sich daraus ergebenden Gewissenskonflikt fordert sie die »führenden Kasten« auf, sich »im Interesse der Wahrhaftigkeit« endlich zu entscheiden, statt »die Gegensätze zu verschleiern und Kompromisse zu schliessen, wo keine Kompromisse mehr möglich sind.« »Haben sich«, fragt sie, »die führenden Kasten jemals Rechenschaft gegeben, zu welchem Zweck dem deutschen, englischen, französischen und russischen Kind durch Kirche und Schule die Liebe des Nächsten gelehrt wird? Etwa darum, um es später, wenn es mannbar geworden, gegen diesen Nächsten in die Schlacht zu schicken? […] Es ist ein Unsinn da Christen zu erziehen, wo nur Soldaten gefordert werden. […] Nur Wahrheit! Wahrheit! Endlich Wahrheit!« Thea Sternheim: Tolstoi. In: Aktionsbuch, hrsg. von Franz Pfemfert. Berlin-Wilmersdorf 1917. S. 67-71, hier S. 70. (Wegen der Zensur konnte der Aufsatz nicht in der ›Aktion‹, sondern erst 1917 in der Anthologie erscheinen). Th. St. hat den Text am 30. 1. 1915 im Tagebuch abgeschrieben. Dass eine solch radikale Sicht mit der Kirche, die Soldaten und Kanonen segnete, nicht vereinbar war, versteht sich von selbst.
Nach der Scheidung Ende 1927 machte Thea Sternheim in Berlin, orientierungslos und durch die Krankheit ihres Ex-Mannes in ein »abgründiges Tief« geraten, doch einen Versuch, sich dieser Kirche anzuschließen. Ausschlaggebend war dabei die Bekanntschaft mit dem Dominikanerpater und Mitbegründer des ›Friedensbundes deutscher Katholiken‹, Franziskus Maria Stratmann, dessen Friedfertigkeit sie tief beeindruckte und mit dem sie bald eine Freundschaft verband. Durch ihn bewegte sie sich ein paar Jahre lang in katholischen Kreisen und nahm am kirchlichen Leben teil. Stratmanns Aufforderung, in den dritten Orden des heiligen Dominikus einzutreten, lehnte sie allerdings »rein intuitiv«, wie sie rückblickend mit Genugtuung feststellte (TB 11. 1. 1960), ab. Wiederum waren es der Chauvinismus, bald auch die Sympathie für den Nationalsozialismus einiger katholischer Freunde (Paul Adams, Karl Eschweiler), »Plötzlich weiss ich bei den seitens Eschweiler geführten Gesprächen über den Krieg, (Gespräche, die stets in Hymnen auf den auf dem Schlachtfeld gefundenen Tod ausarten) dass aus dieser Richtung die empfindlichsten Schläge gegen meinen Glauben geführt werden.« (TB 28. 3. 1932). die sie abschreckten und eine dauernde Bindung an die Kirche verhinderten. Später sprach sie distanzierend von der Zeit »meines katholischen Erlebnisses« (TB 28. 8. 1954).
In den Dreißigerjahren in Paris, wohin sie aus Abscheu vor dem aufkommenden Nationalsozialismus bereits 1932 freiwillig, d. h. ohne durch Verfolgung gezwungen zu sein, emigrierte, waren es die politische Haltung der offiziellen Kirche und die bürgerliche Selbstzufriedenheit der französischen Katholiken, Am 2. Januar 1933 schreibt sie André Gide: »[…] je trouve le catholique français de plus en plus impossible. […] Incompréhension absolue de ma part avec quelle insolence ils affichent tous une sérénité à laquelle je ne crois nullement et à laquelle la grande tradition catholique n’a jamais prêté.« ([…] ich finde den französischen Katholiken je länger je mehr unmöglich. […] Totales Unverständnis meinerseits für die Unverschämtheit, mit der sie eine Zufriedenheit zur Schau tragen, an die ich überhaupt nicht glaube und zu der die große katholische Tradition nie Anlass gab.«) (AG-Th. St., S. 27). die sie endgültig von der Kirche entfernten. Wie bereits im Ersten Weltkrieg zeigte sich nun, wie auch später in der Libération, dass sie die politischen Ereignisse wesentlich aus religiöser Perspektive wertete. Dies trifft insbesondere für die Verfolgung der Juden zu, über die sie immer erstaunlich gut informiert war (bereits vor der Wannseekonferenz wusste sie von der bevorstehenden systematischen Judenvernichtung!). Vgl. TB 5. 11. 1941, wo sie von der »bevorstehenden Endregelung der Judenfrage« spricht, und TB 15. 12. 1941, wo von Gerüchten die Rede ist, wonach die Juden nach der Deportation durch Maschinengewehre oder Flammenwerfer ermordet würden. Diese und ähnliche Informationen hatte sie vom Maler und Graphiker Paul Strecker, der über sehr gute Beziehungen zur deutschen Botschaft in Paris verfügte. Im Herbst 1944 notierte sie:
Das Schicksal rollt weiter. Ich kann den Ablauf der Dinge weder von ihrem geschichtlichen noch von meinem Gefühlsstandpunkt werten. Ich empfinde ihn religiös. Wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt, wollte Jesus alle Völker in seinem Pax vobiscum vereinen. (TB 1. 9. 1944).
Die sogenannten Säuberungen in Paris, die Rache der Résistance-Kämpfer an den Kollaborateuren und später sogar die Nürnberger Prozesse erschreckten sie aus dieser religiösen Perspektive fast ebenso wie die Untaten der Nationalsozialisten:
Die Schmach bleibt die nicht wiedergutzumachende Sünde. Die Sünde das klaffende Loch. Das Nichts. Der Strafvollzug häuft nur neue Sündenlasten auf die alten. Ach nur der schöpferische Friedensbringer, der der gross genug wäre zu verzeihen könnte die Welt beruhigen. (TB 26. 10. 1944).
Frieden und Gewaltlosigkeit waren und blieben für sie die Botschaft und das entscheidende Gebot des Christentums, und die Sünde war wesentlich das, was dagegen verstieß, im Zwischenmenschlichen ebenso wie im Politischen.
Thea Sternheims undogmatisches und kirchenfernes Christentum war radikal im Beharren auf dem Liebes- und Friedensgebot und gleich weit entfernt vom »billigen Optimismus« der Oxfordbewegung wie vom »politischen Katholizismus« Vgl. TB 29. 8. 1934 und TB 7. 11. 1939. oder dem mit Christentum versetzten Pharisäismus, der ihr »bei weitem verhasster [war] als der krasseste Atheïsmus eines Materialisten!« (TB 8. 6. 1947). Aber ihr Christentum war weder fundamentalistisch noch missionarisch. Als Maria van Rysselberghe, André Gides ›Petite Dame‹, ihr im Gespräch unvermittelt sagt, sie sei »combattivement atheïste«, weicht Thea Sternheim dem Gespräch aus und fragt sich später: »Warum entgegne ich ihr nicht einfach, dass ich bis in meine Fingerspitzen gottgläubig, jedoch nicht ›combattivement deïste‹ bin?« (TB 22. 3. 1948).
In einem wesentlichen Punkt blieb sie trotz aller Kirchenferne lebenslang katholisch: Der Protestant ist unmittelbar zu Gott, der Katholik hat die Kirche und die Heiligen. Die Heiligen waren Thea Sternheim lebenslang wichtig: als Mittler des Willens Gottes und vor allem als »Nothelfer«. An erster Stelle stand – nicht verwunderlich nach dem Gesagten – Franziskus von Assisi. Doch beschränkte sie sich keineswegs auf die von der Kirche Heiliggesprochenen. Als sie von der sechsjährigen Tochter Mopsa in einem Gespräch über Gott gefragt wird: »Wer sagt uns Seinen Willen?«, antwortet die Mutter: »Die Heiligen. Christus vor allem. Laotse. Buddha. Der assisische Franz. Die Mystiker. Tolstoi.« (TB 20. 6. 1921). Das ist nun eine in mehrfacher Hinsicht unorthodoxe Liste, die mit Franz von Assisi nur gerade einen einzigen, im katholischen Sinn ›echten‹ Heiligen nennt. Dass auch Christus als Heiliger firmiert, passt zum irdischen Bild, das Thea Sternheim von ihm hat, dass aber andere Religionsstifter im gleichen Atemzug genannt werden, bezeugt ein zumindest sehr großzügiges Verständnis von Christentum; das gilt ebenso für die Mystiker (gemeint sind Tauler, Seuse, Eckhart und Ruysbroek). Aufschlussreich ist aber besonders die Nennung Tolstojs: Sie zögert nicht, die ihr wichtigen Schriftsteller und Künstler als Heilige anzusprechen und zu verehren, und beschränkt sich dabei keineswegs auf besonders fromme Christen. Normalerweise nennt sie Heilige wie Franz von Assisi oder Theresa von Avila und Künstler in einem Atemzug, nur ein einziges Mal unterscheidet sie zwei Kategorien:
Das, was sich zwischen dem Unausdenkbaren, dem Unaussprechlichen und mir auswirkt – der gläubige Katholik würde es vielleicht als »Gemeinschaft der Heiligen« bezeichnen. Dabei scheint mir selbst der Begriff »heilig« noch eine Begrenzung, die in keiner Weise die Fülle des Beistands auszudrücken vermag. Da sind nicht nur Jesus, Augustinus, Ekkehart, Suso, Katharina von Siena, Therese von Avila, Anna Katharina – aber auch alle der anderen Kategorie – Pascal, Voltaire, Goethe, Novalis, Stendhal, Flaubert, Tolstoï, Dostojewski, Huysmans, Baudelaire, Gide, Benn – die primitiven vlämischen Maler, die Sienesen, Bosch, Breugel, der Sigmaringer, die Präraffaeliten, Grünewald, die Maler meiner Jugendzeit … Das waren die Freunde, die Nothelfer in diesem oft so erbarmungslosen Leben. (TB 24. 11. 1957).
Obwohl sogar Agnostiker und erklärte Atheisten zu diesen »Heiligen« gehören: Sie alle haben ihr nicht nur zu leben geholfen, sie waren ihr wie Jesus offenbar Mittler und eine Versicherung des Himmlischen. Und hier nun berühren sich die Sehnsucht ins Himmlische und die Lust am Schöpferischen: Die Heiligen der ersten Kategorie zeugen für Gott, den Schöpfer, die der zweiten sind selber Schöpfer und verweisen damit ebenfalls auf den großen Schöpfer. Im Gedanken an die Schöpfungsgeschichte spricht sie von der »göttlichen Schöpferlust« (TB 11. 12. 1944), und von Picasso sagt sie: sein »Gesicht strahlt Schöpferlust« (TB 8. 3. 1943). Die Teilhabe am Schöpferischen aber ist für Thea Sternheim die höchste, weil dem Himmlischen am nächsten kommende Seinsweise des Menschen. Sie selber hofft in alten Tagen, immer noch einmal schöpferisch zu sein (d. h. literarisch schreiben zu können), und immer wieder fürchtet sie, ihr Freund Herman de Cunsel könnte seinen »schöpferischen Elan« verlieren, um dann wieder konstatieren zu können: »Welch ein Geschenk des Himmels von einem mir so nahestehenden Menschen wie Herman so nachdrücklich des Schöpferischen versichert zu werden.« (TB 22. 3. 1967). Wo sie dieses »schöpferische Ereignis« wie bei Stendhal gewahrt, »wächst mein Wille zum Widerstand gegen das Grauen«. (TB 24. 11. 1943) – der »Heilige« ist der »Nothelfer«.
Wenn aber das Schöpferische an sich eine so eminente Stellung einnimmt, lassen sich Schöpfer und Werk kaum trennen, und was das Werk angeht, so ist es weniger die Aussage als der Stil und die Schönheit, mithin das ästhetische Kunstwerk, das hier entscheidet und das Himmlische verbürgt:
Sage ich aber: ich verbringe diese Nächte mit Benn so meine ich damit vor allem den unerreichbaren Stilisten, den Worterfinder, den Tiefbohrer im Unterbewussten, der die ihm zugemessene Zeit überdauert, der sich in die Gemeinschaft meiner Heiligen einreiht. Man kann niemand eine grössere Ehre antun als diese. (TB 6. 6. 1960).
Damit bewegt sich Thea Sternheim in der Tradition der Kunstreligion, historisch gesehen an ihrem Anfang Ende des 18. Jahrhunderts, wo die Kunst die Religion noch nicht ersetzt, sondern einen Weg neben anderen zur religiösen Erfahrung bildet. Vgl. dazu Heinrich Detering: Was ist Kunstreligion? Systematische und historische Bemerkungen, in: Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung, Bd. 1, Berlin 2011. S. 11-27. Hier besonders S. 14 f. u. 24. Mit der Kunstreligion eng verbunden ist der Künstlerkult: Der Schöpfer des Kunstwerks wird als Offenbarungsträger verehrt. Vgl. Heinrich Detering: Kunstreligion und Künstlerkult. Bemerkungen zu einem Konflikt von Schleiermacher bis zur Moderne, in: Schleiermacher-Tage 2005. Eine Vortragsreihe, hrsg. von Günter Meckenstock, Göttingen 2006. S. 13-34. Hier S. 25 ff. Indem Thea Sternheim nicht bei der Betrachtung des einzelnen Kunstwerks bleibt, sondern den Künstler – sie interessiert sich immer auch für die Biographie und den Menschen, der das Werk schafft – in die »Gemeinschaft meiner Heiligen« aufnimmt, stellt sie sich auch in diese Tradition. Ja, sie geht so weit, persönliche Zeugnisse und Dokumente des Künstlers wie Reliquien zu verehren. So schreibt sie von den Briefen von Flauberts Jugendfreund Alfred Le Poittevin, die sich seit 1912 in ihrem Besitz befanden und die wegen ihres pornographischen Inhalts erst im Jahr 2000 ungekürzt veröffentlicht werden konnten: »Mir sind sie unendlich teuer. Ein Schatz. Eine Reliquie. Sie haben in Flauberts Schublade gelegen, es sind die Erinnerungen seiner frühen Jugend. Sie liegen unter dem Kruzifix in meinem Schlafzimmer.« (TB 30. 12. 1913). Während eines Krankenhausaufenthalts hat sie sie sogar mit ins Bett genommen. TB 1. 5. 1913. Dieser Kult blieb ihre höchst private Angelegenheit – wenn der Künstler selbst, sei es im Werk oder im Leben, Pathos und »Weihefeststimmung« (TB 15. 10. 1962) produzierte, lehnte sie dies schroff ab; aus einer Lesung Else Lasker-Schülers floh sie, »weil mir die Aufmachung im verdunkelten Saal vor zwei brennenden Kerzen, der angeschlagene liturgische Ton der Vorleserin nicht nur lächerlich, sondern widrig vorkam. Zweifellos löst die Vermischung des Künstlerischen mit dem Kultischen die Wirkung der Selbstentblössung aus. Wie ja auch jeder Versuch einer Beeinflussung meine[r] anarchische[n] Grundstimmung mich zum Widerspruch reizt.« (TB 5. 10. 1960). Mit »Anarchie und Frommsein« hat sie rückblickend ihre Kindheit – und ihre Haltung schlechthin – charakterisiert. TB 31. 8. 1960.