Marion Beckers und Elisabeth Moortgat
Thea Sternheims fotografischer Kosmos – ein Fragment
»Es gibt in unserem Zeitalter kein Kunstwerk, das so aufmerksam betrachtet würde, wie die Bildnisphotographie des eigenen Selbst, der nächsten Verwandten und Freunde, der Geliebten …«
Private Fotografien entstehen ohne Auftrag, sie dokumentieren Familienbande, belegen Freundschaften und tragen zur Selbstvergewisserung bei. Sie wecken Erinnerungen und sind Träger von sentimentalen Stimmungen. Fotografien werden verschickt und verschenkt, in Kartons gesammelt, an die Wand gepinnt und aufgestellt, ins Album geklebt und als Andenken an geliebte Menschen im Medaillon oder im Portemonnaie getragen. Sie haben den Vorzug alles Haptischen gegenüber dem Virtuellen, weshalb sie sich auch besonders als Fetisch eignen.
Die Bedeutungsvielfalt einer einzigen privaten Fotografie um 1900 lässt sich nicht anrührender darstellen, als es Oscar Wilde in seiner Komödie ›Lady Windermeres Fächer‹ 1893 gelungen ist. Oscar Wilde: Lady Windermeres Fächer. Die Geschichte einer anständigen Frau. Komödie in vier Akten, Stuttgart 1998. Die harmlose Aufnahme einer Mutter mit Kind, die im ersten Akt reine Mütterlichkeit ausstrahlt, wird im Laufe der Komödie zum Beweisstück eines moralischen Fehltritts der Großmutter, die einst ihre eigene Tochter wegen eines Geliebten verlassen hat. Oscar Wilde kannte sich aus mit der emotionalen Wirkung von Fotografien und ihrem Fetischcharakter. Auch versäumte er es nicht, auf die nach immer gleicher Dramaturgie im Entrée, im Salon und in den intimen Räumen der Eheleute platzierten Erinnerungsstücke anzuspielen.
Privatfotografien dieser Art harren ungezählt in öffentlichen und überwiegend in privaten Sammlungen ihrer Erweckung. So auch die fotografischen Konvolute von Thea Sternheim, die zugleich eine alltagsgeschichtliche Quelle sind. Es sind Zeugnisse einer Liebhaberei, die vor dem fotografischen Ergebnis die Erinnerung an die eigene Lebensgeschichte im Auge hatten.
Die erhaltenen Fotografien von Thea Sternheim aus den Jahrzehnten zwischen 1905 und 1970 sind zum Teil eingeklebt in den dreiundsechzig handschriftlichen Tagebüchern (1903-1971) und den Tagebüchern ihrer Tochter Mopsa; dazu kommen Einzelaufnahmen in mittleren (ca. 15 × 10 cm) und größeren (ca. 23 × 18 cm) Formaten, aufgelegt auf Karton, zwei kleine Alben und wenige Blätter aus verschiedenen größeren Alben. Sie befinden sich heute in Privatbesitz und im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Dieser Nachlass umfasst nur noch einen kleinen, nicht näher zu beziffernden Teil der von Thea Sternheim in gut sechzig Jahren gemachten Fotografien.
Thea Sternheim hat um 1905 die ersten uns bekannten Aufnahmen gemacht und mit größeren zeitlichen Unterbrechungen ihre Kinder Agnes Löwenstein, Dorothea, gen. Mopsa, und Klaus Sternheim sowie ihren Mann, Carl Sternheim, befreundete Künstler, Schriftsteller und Schriftstellerinnen, selten auch Menschen ihrer Umgebung fotografiert. Seit dieser Zeit gehörte das Portraitieren neben dem Lesen von Weltliteratur und dem Schreiben – auch einiger veröffentlichter Beiträge – als integraler Bestandteil ihres künstlerischen und politischen Lebens zu dem Dreigestirn ihrer schöngeistigen Beschäftigungen.
Zu Beginn der Sechzigerjahre in Paris lebend, hat sie, bevor sie in die Nähe ihrer Tochter Agnes Löwenstein, verh. Inés Leuwen-Beck, nach Basel zog, eine nicht zu beziffernde Anzahl ihrer Fotografien, Negative und Glasplatten selbst zerstört. Zudem hat sie im Laufe der Zeit einen Teil der Abzüge an ihre Kinder, an Freunde und Gäste verschenkt.
Aus dem überlieferten Material lässt sich kein vollständiges Bild ihrer fotografischen Tätigkeit gewinnen, demzufolge auch nur eine eingeschränkte alltagsgeschichtliche sowie geschlechter- und fotohistorische Einschätzung vornehmen. Erschwerend kommt hinzu, dass in vielen Fällen die Datierungen nur über Tagebucheintragungen und ohne Gewähr rekonstruiert werden können. Nicht erhalten geblieben sind beispielsweise Aufnahmen, die sie im Tagebuch erwähnt: von Angestellten einer Papierfabrik in Rouen (1911), ein Zyklus mit Aufnahmen von Händen (1932) und über die Jahre Aufnahmen von Kindern auf der Straße in der Nachbarschaft.
Überaus aufschlussreich für die Erschließung der amateurfotografischen Sammlung von Thea Sternheim, für die Interpretation und Klassifizierung ihrer jahrzehntelangen fotografischen Tätigkeit ist ein vielseitiges Kontext-Wissen, das in ihren ›Erinnerungen‹, den Tagebüchern und ihren Briefen steckt. Für die hier erstmals vorgelegten Erörterungen zum fotografischen Kosmos Thea Sternheims konnte das Textmaterial nur in Auszügen gesichtet, gelesen und einbezogen werden. Bei der Annäherung an Thea Sternheims autobiografisches Fotografieren haben wir uns vorwiegend auf ihre ›Erinnerungen‹ (1995) und ›Tagebücher‹ (2011) bezogen.
Die erhalten gebliebenen Aufnahmen von Thea Sternheim als einer von wenigen jahrzehntelang tätigen deutschen Amateurfotografinnen würden eine detaillierte Erfassung und Qualifizierung vor allem der zwischen 1905 und 1938 entstandenen Arbeiten rechtfertigen. Sie zeigen deutlich Qualitäten einer von kommerziellen und formalästhetischen Zwängen freien Fotografie, die in ihren besten Ergebnissen das Etikett Meisterwerke moderner Portraitfotografie verdienen.
»… jetzt fasst man erst, was diese Erfindung bedeutet«
Thea Sternheim, Tochter eines Schrauben- und Mutternfabrikanten in Köln, kam wie viele junge Mädchen ihrer Generation aus großbürgerlichem Hause mit Fotografie zuerst über Kunstpostkarten in Berührung. Bei regelmäßigen Museumsbesuchen sammelte sie ihre Lieblingsmotive alter Meister, schulte daran ihren Geschmack und entwickelte im Laufe der Jahre eine tiefe Begeisterung für die abendländische, später auch für die moderne Kunst.
Sicher annehmen darf man, dass sie in ihrem Elternhaus auch den Umgang mit Fotografien als Wandschmuck erlebt hat – ein Brauch, der sich in der Gründerzeit durch überbordende Fülle zum Horror Vacui oder auch zu der bereits um die Jahrhundertwende als »Geschmacksbarbarei« Paul Westheim: Die Photographie als Wohnungsdekoration, in: Deutscher Camera Almanach. Ein Jahrbuch für die Photographie unserer Zeit, Bd. 6, Berlin 1910, S. 164. gescholtenen Unsitte ausgewachsen hatte. Selbst Innenarchitekten kamen diesem Bedürfnis nach, sich mit fotografischen Erinnerungsstücken zu umgeben, indem sie an der Rückwand von Damenschreibtischen Vertiefungen als Schmuckrahmen für Fotografien vorsahen.
In klassischer Geschlechtertrennung zwischen ›draußen‹ und ›drinnen‹ lag die Verantwortung für die Atmosphäre eines gepflegten Wohnens in weiblicher Hand. Auch Thea Sternheim hat diese Tradition des medial gemischten Wandschmucks aus Fotografien, Zeichnungen, Drucken und Gemälden extensiv gepflegt und noch an die Generation ihrer Töchter weitergegeben: So jedenfalls bezeugen es Fotografien, die Annemarie Schwarzenbach von Mopsa Sternheims Wohnung 1933 in Paris gemacht hat: Auf durchgemusterter Rosentapete in wild kombinierter Mischung aus Zeichnungen und Karikaturen sind kleine und größere Fotografien, darunter auch von Thea Sternheim und Marianne Breslauer, zu entdecken. Annemarie Schwarzenbach, Paris, bei Mopsa Sternheim, Juni 1933, in: Alexis Schwarzenbach, Auf der Schwelle des Fremden. Das Leben der Annemarie Schwarzenbach, München 2008, S. 252 f.
Die Fotografie stand um 1900 in Rezeption und Produktion an der Schwelle zwischen Tradition und Moderne, zwischen neuer Ästhetik und leblosem Akademismus. Kein Geringerer als Alfred Lichtwark, Direktor der Hamburger Kunsthalle, war es, der in dieser Auseinandersetzung bereits 1893 Partei für die Amateurfotografen genommen hat und sich durch sie vor allem eine Erneuerung des Portraits in ungezwungener, alltäglicher Umgebung erhofft hat. Alfred Lichtwark: Die Bedeutung der Amateurphotographie, in: Alfred Lichtwark: Erziehung des Auges. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Eckhard Schaar, Frankfurt a. M., 1991, S. 96-109. Auf dasselbe abzielend, tönt es ähnlich auch von anderer Seite: »Statt der leblosen Porträts, die unsere Berufsfotografen anfertigen, werden individuelle Porträts an den Wänden hängen, von Amateuren gefertigt, die es noch nicht gelernt haben, das Leben durch Kopfhalter und Schablonenstellungen zu tödten …« Angelika Beckmann: Kunstfotografie und Raumkunst. Fotografie und Wandschmuck um 1900, in: Fotogeschichte, 15 (1995) H. 58, S. 40.
Bildästhetisch ging es um die Loslösung der Dargestellten aus historistischer Überfrachtung hin zu unretouchierten Bildnissen, die nicht einem Kanon folgen, sondern die Persönlichkeit des Menschen, seine Eigenart, Vorlieben und Besonderheiten zeigen und gegenüber dem stereotypen, ins Klischee gezwängten und retuschierten Bildnis im Atelier auf Natürlichkeit durch Bewegung, legere Kleidung und die Inszenierung in freier Umgebung setzen. Als Amateurfotografin stand Thea Sternheim zu Anfang ihrer fotografischen Praxis zwischen diesen beiden Positionen.
Betrachten wir zur Verdeutlichung des Richtungsstreits, in dem Thea Sternheim die Koordinaten ihrer eigenen Ästhetik finden musste, paradigmatisch drei Fotografien aus dem Nachlass: eine Aufnahme des Münchner Hoffotografen Franz Grainer von ca. 1913, der als Traditionalist um den Anschluss an die Moderne bemüht war (Abb.),Th. St. mit Moiby (Mopsa), Foto Franz Grainer, ca. 1913 eine anonyme Fotografie mit Thea und Klaus von 1914 (Abb.)Th. St. und Klaus, ca. 1914, Fotograf unbekannt, DLA und eine dritte von Thea Sternheim, die Klaus und Mopsa im Alter von acht und elf Jahren zeigt (Abb.).Mopsa und Klaus, ca. 1916, DLA
Die Aufnahme im Studio des Atelierfotografen Franz Grainer mit Thea Sternheim und ihrer achtjährigen Tochter Mopsa vor einer standardisierten Atelierwand steht noch ganz in der Tradition: In Nachmittagsrobe aus Seidentaft mit großem weißen Kragen wirkt vor allem die in die Hüfte gestützte, extrem abgespreizte Hand mit Schmuckring auf dem Zeigefinger überaus gekünstelt. Die Konturen des Mädchenkörpers, in denselben glänzenden Stoff gehüllt, verfließen mit dem der Mutter. Die Eleganz der Aufnahme lebt von den starken Hell-Dunkel-Kontrasten von weißer Haut und schwarzem Stoff.
Etwa ein Jahr später entsteht eine motivisch vergleichbare Aufnahme im Freien mit Thea Sternheim auf einem Gartenstuhl sitzend mit ihrem sechs- bis siebenjährigen Sohn Klaus auf dem Schoß. Im Unterschied zu Franz Grainers starrem Bildkonzept wirkt die Nähe zwischen Thea und Klaus ganz natürlich. Die Glaubwürdigkeit des Eindrucks von zärtlicher Innigkeit zwischen Mutter und Kind – in Malerei und Fotografie ein beliebtes Motiv – entsteht durch die legere Haltung des ungelenk auf dem Schoß sich am Kleid der Mutter festhaltenden Jungen, der sich alles andere als in Pose präsentiert. Es ist denkbar, dass Mopsa die Aufnahme gemacht hat, der die Mutter die Kamera zum Auslösen in die Hand gegeben hat, wie sie es häufiger wohl getan hat: »Ich photographiere. Die Kinder photografieren mich.« TB* 5. 4. 1913. In diesen Zusammenhang gehört vermutlich auch die ebenfalls im Garten entstandene Aufnahme, die Thea Sternheim von Mopsa gemacht hat, die in zärtlicher Zuwendung ihren kleinen Bruder auf dem Schoß trägt. Woher hatte Thea Sternheim diese moderne, auf Gefühl und persönlichen Ausdruck gerichtete Herangehensweise in ihren Bildnissen?
Wenn wir in Thea Sternheim eine Amateurfotografin sehen, entspricht das der Bezeichnung der Zeit um 1900 für Fotografierende, die sich von den professionellen Atelierfotografen insofern unterschieden, als sie ihre Aufnahmen nicht zur kommerziellen Verwertung und zum Verkauf angeboten, sondern ausschließlich zur privaten Verwendung gemacht haben. Amateure fotografierten im privaten Umfeld aus Liebhaberei und bildeten sich anhand von Zeitschriften und Almanachen sowie in den zahlreichen Vereinen und Clubs weiter. Sie standen nicht unter dem Druck, Geld verdienen zu müssen und waren damit auch in künstlerischer Hinsicht frei von jeglichen Vorgaben. Einzig die Kosten für die sich ständig weiterentwickelnden technischen Geräte waren enorm. Im Unterschied zu den in der Szene engagierten Amateurfotografen war Thea Sternheim nicht an öffentlichen Diskussionen und Präsentationen von Fotografien interessiert. Sie überschritt mit ihren Fotografien nur in Ausnahmen die Grenzen des privaten Rahmens: wenn der eine oder andere Freund sie um ein Portrait bat, das dann, wie die zahlreich verschenkten Fotografien, in den privaten Personal- bzw. öffentlichen Archiven landete, wenn Hermann von Wedderkop Aufnahmen von ihr im ›Querschnitt‹ Siehe u. a.: Querschnitt, 2 (1922 /23) (Masereel und Sternheim, Uttwil 1922); 5 (1925) H. 7, S. 593 (Carl Sternheim mit Kurt Pinthus, eine Montage, in der der Kopf von André Germain im Original hier durch Pinthus’ Kopf ersetzt wurde); 7 (1927) H. 4, vor S. 303 (Dorothea Sternheim, Pamela Wedekind, Erika Mann, Uttwil 1926); 10 (1930) H. 6 (Yvonne George, Brüssel 1916, Paris 1928).- Omnibus. Almanach auf das Jahr 1931, S. 50 (René Crevel in Montana); Omnibus 1932, S. 67 (André Gide und Groethuyzen in Berlin). veröffentlichte oder Schriftstellerportraits als Frontispiz in Literaturveröffentlichungen verwendet wurden.
Anzunehmen ist, dass sie die wohlgemeinten Anweisungen zum Gelingen eines Portraits in den zahllosen Publikationen für Amateure gekannt und gelesen, sich aber am ehesten dort wiedergefunden hat, wo es beispielsweise nach einer Auflistung praktisch-technischer Anweisungen heißt: »Obige Betrachtungen sind natürlich nur ein Notbehelf für den, dessen Auge nicht schon für Kunst veranlagt oder durch aufmerksames Betrachten von Meisterwerken gebildet ist.« Siehe Anm. 3, V. v. Kleinenberg: Grundzüge der Komposition und Linienführung im Porträt, S. 108. Auch darf man davon ausgehen, dass sie Fotografien von Albert Renger-Patzsch und Hugo Erfurth im ›Querschnitt‹ in den Zwanzigerjahren gesehen hat. Erfurth hatte selbst als Amateur angefangen, gehörte inzwischen in Deutschland zu den Erneuerern des Bildnisses und stand als Mittler zwischen den Epochen.
Ein besonderes Erlebnis der Betrachtung von Fotografien bedeutete für Thea Sternheim das der fotografischen Selbstbildnisse aus dem Jahr 1886 von August Strindberg. In diesem Zusammenhang trägt sie am 21. August 1915 in ihr Tagebuch eine Formulierung ein, die eine Art persönlicher Erweckung im Umgang mit Fotografien signalisiert: »[…] jetzt fasst man erst, was diese Erfindung bedeutet!«, Siehe Anm. 2. womit sie die Tiefe des Ausdrucks psychischer Befindlichkeit meinte. Sie durchlebte offenbar die innere Gestimmtheit des Dargestellten gleichsam selbst. Ähnlich sind ihre emphatischen Äußerungen angesichts einer anonymen Aufnahme des englischen Dichters Aubrey Beardsley aus dem Jahr 1899, der, schwer an Tuberkulose erkrankt, in seinem Lesezimmer vor einem an der Wand ausgebreiteten christologischen Bildzyklus sitzt und liest: »Als sich Aubrey Beardsley in Mentone photografieren liess, ahnte er nicht, wie ich in schwerer Stunde und in einem grossen Bedürfnis nach Hingabe zu dem Buche griff, in welchem dieses Bild steht und es mir lange ansah und mir seine kleinste Einzelheit einprägte. Die Vase, in welche er seine Blumen gab, seine Bilder, sein Jesus, vor dem er betete.« TB 11. 8. 1908.
»… meine violon d´Ingres …«
Die frühesten erhaltenen Aufnahmen von Thea Sternheim aus dem Jahr 1905 sind vermutlich mit einer Platten-Klapp-Kamera im Format 9 × 12 cm entstanden. Jahre später, im März 1911, erwirbt sie dann eine Schlitzverschluss-Kamera der Optischen Anstalt C. P. Goerz bei Schwarz in München, die wegen der kurzen Belichtungszeit für Portraitaufnahmen besonders geeignet war, die sie allerdings im nächsten Jahr wieder gegen eine kleinere, vermutlich eine Goerz Tenax von 4,5 × 6 cm eingetauscht hat. 1912 richtet sie sich in ›Bellemaison‹ in Höllriegelskreuth bei München neben ihrem Arbeitszimmer eine Dunkelkammer mit Spültisch ein, nicht ohne dabei professionelle Unterweisung in Anspruch zu nehmen. Am 19. März 1912 notiert sie: »Nachmittags kommt ein Retoucheur mir Stunde geben«, TB 19. 3. 1912. und am 27. April erwähnt sie einen Herrn Wacker, bei dem sie Unterricht nimmt und bei dem es sich eventuell um den Hoffotografen Franz Wacker aus Aschaffenburg handelt. Unter demselben Datum schreibt sie außerdem: »Ich lerne vergrössern«. TB 27. 4. 1912.
Im Laufe der Jahre nahm das Fotografieren für Thea Sternheim den Charakter einer Obsession an, zu Anfang im Umgang mit den empfindlichen Glasplatten, in den 1920er Jahren dann mit den um ein Vielfaches einfacheren Filmpacks. An jedem neuen Wohnort, selbst an den vorübergehenden Unterkünften während des Ersten Weltkrieges, richtete sie sich umgehend eine Dunkelkammer ein, die im Laufe der Jahrzehnte zu ihrem Refugium, dem ›Zimmer für sie allein‹ wurde. Auf Reisen wie auch während ihrer häufigen Aufenthalte in Paris nimmt sie schon einmal die Firma Kodak in Anspruch, um, wie beispielsweise 1925, ca. 70 Aufnahmen einer Fotoserie von ihrem belgischen Freund und Graphiker, Frans Masereel und seiner Familie, entwickeln und vergrößern zu lassen. 1936 kauft sie in Paris einem Emigranten eine 6 × 6 cm Rolleiflex ab, obwohl sie es sich finanziell eigentlich nicht leisten konnte. TB 13. 8. 1960.
Wie im professionellen Gewerbe der Atelierfotografie um 1900 nur wenige Frauen in Deutschland tätig waren, haben sich auch nur wenige Amateurinnen öffentlich engagiert. Dennoch haben sich Fachzeitschriften wie die ›Photographische Industrie‹ 1916 mit gezielter Werbung an ihre Leserinnen gerichtet: »Zur Gewinnung der Damenwelt lassen sich auch leicht erfolgversprechende Argumente finden. Es kann neben den üblichen Hinweisen, der Freude, des angenehmen Zeitvertreibes usw. darauf hingewiesen werden, daß das Photographieren zu den vornehmsten Sportbetätigungen der Dame gehört, daß jede Dame ihre künstlerischen Bedürfnisse dadurch befriedigen kann und schließlich, daß das Photographieren heute ebenso zum guten Ton gehört, wie Klavierspielen und andere ästhetische Betätigungen …« Ellen Maas: Das Photoalbum 1858-1918. Eine Dokumentation zur Kultur-und Sozialgeschichte, Ausst.-Kat., Münchner Stadtmuseum 1975, S. 139. Und das Programm ging auf. Allein die wenigen veröffentlichten Nachlässe von Amateurfotografinnen zeigen, wie breit das Spektrum der privat getätigten, autobiografischen Fotografien von Frauen war: Spiegeln die Aufnahmen von Thea Sternheim ihren Umgang mit der Kamera in der Familie und ihrem kosmopolitischen Freundes- und Künstlerkreis, so repräsentieren beispielsweise die Aufnahmen von Renée Schwarzenbach-Wille das Leben einer deutschschweizerischen Generalstochter, Renée Schwarzenbach-Wille. Bilder mit Legenden, hrsg. von Alexis Schwarzenbach, Zürich 2005. demonstrieren die fotografischen Notizen der Deutsch-Holländerin Katharina Eleonore Behrend besonders ihre Begeisterung für die Maschinenfabrik ihres Mannes und für Freikörperkultur Katharina Eleonore Behrend: Photographien 1904-1928, Leiden, Hannover 1994. und der Bilderzyklus von ›Frauen in Männerberufen‹ der Braunschweigerin Käthe Buchler belegt ihre persön-
liche Unterstützung der Heimatfront in Deutschland während des Ersten
Weltkriegs. Käthe Buchler: Fotografien zwischen Idyll und Heimatfront, hrsg. von Florian Ebner und Jasmin Meinold, Museum für Photographie Braunschweig 2012.
Tatsächlich muss es ungezählte Frauen dieser Generation, vorwiegend aus dem Großbürgertum, gegeben haben, die ihr Privat-und Familienleben, das Wachsen und Werden der Nachkommen, Familien-Jubiläen und -Feste, Sport- und Reiseunternehmungen fotografisch dokumentiert, in Alben gesammelt und häufig in mehrfachen Ausgaben für ihre Kinder angelegt haben. Auf diese Weise wurde das Fotoalbum zum Ort des Nachlebens der Frauen in der Familie und das Sammeln von Familienfotografien zum symbolischen Akt, Familienbindung zu stiften. Anders als über das geschriebene Wort wurden über Fotografien jedoch weniger die Konflikte und Probleme als die spielerischen und denkwürdigen Ereignisse überliefert.
Thea Sternheim hat über Jahrzehnte eine Anzahl in Größe und Umfang sehr unterschiedlicher Alben geführt, von denen im Wortsinn nur noch Bruchstücke in Privatbesitz erhalten sind: achtzehn Blatt im Format 24,5 × 20 cm mit Schutzvorblatt aus Seidenpapier, darauf eigenhändige Betitelung in einem Schmuckoval, beispielsweise ›Agnes im Badezimmer. Oberkassel, Oktober 1905.‹ oder ›Karl vor dem Hotel Göringer. Rippoldsau, Juli 1906‹ – ganz überwiegend Aufnahmen von der Familie; ebenfalls mit Bildnissen ihrer Kinder existieren ca. zehn lose Blätter eines im Bund gelochten Albums im Format 25, 5 × 20,5 cm mit jeweils vier Aufnahmen auf Vorder- und Rückseite aus den Jahren 1905 bis 1913 und zwei Steckalben im Querformat von 13,6 × 16,5 cm mit jeweils vier Kontaktabzügen von ca 4,5 × 6 cm auf Vorder- und Rückseite aus den Jahren 1922 bis 1931.
Von Stimmung und motivischem Variationsreichtum, aber auch von der Spielfreude der beteiligten Personen vor und hinter der Kamera geben letztere Aufnahmen aus den Steckalben einen detaillierten Eindruck. Häufig wurden Familie und Besucher vorwiegend im ›Waldhof‹ bei Dresden, in Uttwil im Thurgau und in Berlin in den Akt des Fotografierens einbezogen, und nicht selten machte die Fotografin den Gästen noch vor dem Abschied Fotografien zum Geschenk.
Die kurzen Notate im Album lesen sich wie Bilderläuterungen und erhellen die Aufnahmen ebenso wie die häufig knappen Notizen im Tagebuch über Details zur Entstehung der Fotografien informieren: So gibt das Tagebuch mehr Aufschluss als das Album zu den sechzehn Kontaktaufnahmen mit Klaus Sternheim an einem Sommertag im Freien, in verschiedensten Haltungen posierend: »Ich bin also für zehn, vierzehn Tage mit Klaus, der zärtlich und zutraulich ist […} mit den Fischern fischt und sich von der Sonne brennen lässt.« TB 16. 8. 1926.
Dasselbe Album enthält auch einen besonderen Freundschaftsbeweis zwischen Thea Sternheim und Franz Pfemfert, die sich 1916 in Berlin zum ersten Mal begegnet waren. Sie schätzte den Freigeist anarchistischer Gesinnung und Herausgeber der ›Aktion‹ vor allem wegen seiner konsequenten Antikriegshaltung. 1915 hatte sie ihm ihren Artikel ›Tolstoi‹ zugeschickt, der aber wegen der Zensur erst zwei Jahre später im ›Aktionsbuch‹ veröffentlicht wurde. In den Jahren 1922 bis 1924 entstand zwischen ihnen im ›Waldhof‹ bei Dresden durch häufige Begegnungen, gemeinsame Besuche politischer Veranstaltungen, nicht zuletzt durch Pfemferts wachsendes Interesse an Fotografie ein Verhältnis besonderer Vertrautheit.
Pfemfert verbringt den August und September 1923 im Hause Sternheim, und am 3. September gibt Thea im Tagebuch ihrem Gefühl Ausdruck: »Ich verbringe den Tag photografierend, entwickelnd und ihn sonst über Stellung, Belichtung und Wahl des Objekts belehrend, still mit Franz. Unsere Freundschaft wächst ins tief Selbstverständliche.« TB 3. 9. 1923. Im April 1924 dann der Eintrag: »Er photografiert mich«. TB 9. 4. 1924.
Unter ihrer Anleitung hat sich Franz Pfemfert zum Fotografen entwickelt. Es gibt Aufnahmen, auf denen er ihre Kamera um den Hals trägt, auf denen er beim Fotografieren zu sehen ist, Aufnahmen, die er von Thea und Mopsa gemacht hat, schließlich ein ins Dunkle getauchtes Brustportrait von Thea, wie sie es im Stil ganz ähnlich auch von ihm gemacht hat. (Abb.)Th. St. von Franz Pfemfert aufgenommen, Waldhof, 9. 4. 1924 Welches Ausmaß die gemeinsamen fotografischen Unternehmungen, bei denen Pfemfert und die ganze Familie engagiert waren, gespielt haben, belegen eindrucksvoll Tage, derer sich die Fotografie vollständig bemächtigt hatte, und an denen Thea von »Wettrennen« oder einer »Photografischen Sonntagsorgie« schreibt. »… Die großen Aufnahmen von Franz. Ich glaube Franz macht von Moiby und mir an die hundert Aufnahmen. Beim Kartenspiel, im Gras, auf der Bank sitzend. Unter Gelächter vergeht so der Tag. Meine Lust an photografischen Dingen.« TB 12. 5. 1924.
Franz Pfemfert erwächst aus den fotografischen Übungen am Ende ein zweites berufliches Standbein. Er gründet 1927 in Berlin die ›Werkstatt für Porträtphotographie‹, nimmt Portraitaufträge an und als Thea Sternheim in den Jahren zwischen 1927 und 1932 in Berlin lebt, verbringen beide viel Zeit in seiner Dunkelkammer. Auch in der Emigration tragen Aufträge zum Lebensunterhalt der Pfemferts bei: 1933 bis 1936 durch das Atelier ›Dorit‹ in Karlsbad, wo 1934 Pfemfert und Thea zusammen André Gide im Freien portraitiert haben, und anschließend in Paris und in Mexiko Stadt, wohin sich Franz und Anja Pfemfert 1941 nach der Flucht aus französischen Internierungslagern gerettet haben.
»… das Stückchen Erde, in dem ich pflanzte …«
Thea Sternheims Bildnisse sind keine offiziellen Portraits von Repräsentanten aus Kultur und Wissenschaft, es sind Familien-, Freundschafts- und Künstlerbildnisse, in denen sie ihr Gegenüber aus einer momentanen Stimmung und persönlicher Nähe festgehalten und dabei gerne die Atmosphäre im Freien dem Innenraum vorgezogen hat. In Komposition und Ausschnitt, frei von Stereotypen und Klischees, stehen die häufig seriell konzipierten Improvisationen dem experimentellen Umgang mit der Kamera am Bauhaus der 1920er Jahre näher als jeder kanonisierten Portraitauffassung.