Thea Sternheim und die bildende Kunst
Glaube, Kunst und Literatur bilden die drei Säulen im Leben von Thea Sternheim, die sie durch alle persönlichen und historischen Schicksalsschläge getragen haben. Alle drei Bereiche sind für sie aufs engste miteinander verknüpft, spiegeln und befruchten sich gegenseitig, um zu einer Art Kunstreligion zu verschmelzen, in der sich das Wunder der Schöpfung offenbart – sei es im Gebet, im Bild oder im Wort.
Die in großbürgerlichen Verhältnissen ihres rheinisch-katholischen Elternhauses aufgewachsene Fabrikantentochter Thea Bauer entwickelt aus ihrem kindlichen Glauben an den Schöpfergott schon seit frühester Jugend eine Bewunderung für den schöpferischen Menschen. In den beiden Engelsbildern über ihrem Kinderbett, an die sich Thea Sternheim noch im hohen Alter erinnern wird, liegt ihr Vertrauen in die Schutzengel und Nothelfer ihres Lebens begründet, in der Sammlung von Heiligenbildern bereits der Keim ihrer späteren Kunst- und Sammelleidenschaft. TB 28. 11. 1963. Dem frommen Kind eröffnet schon der Blick aus seinem Zimmerfenster auf die beiden Türme des Kölner Doms, in dem es Stefan Lochners ›Madonna im Rosenhag‹ bewundert, die himmelwärts strebende Perspektive der Gotik, die der erwachsenen Frau ein Leben lang geistige Orientierung bieten wird. Fromm, aber rebellisch veranlagt, wechselt die begabte Schülerin nach der Grundschule in Pensionate nach Bonn und Brüssel. In der belgischen Metropole erlebt Thea Bauer die für sie glücklichste und prägendste Zeit ihrer Jugend: Hier erwacht ihre Liebe für die französische Sprache und Kultur; hier spürt sie bei den Dichtern des belgischen Symbolismus zum ersten Mal den Puls der Moderne; hier entdeckt sie bei den Malern der flämischen Schule ihre Begeisterung für die bildende Kunst. Doch anstelle ihres vom Vater abgelehnten Abiturwunschs stürzt sich die wissensdurstige und lebenshungrige Thea Bauer in eine verbotene Ehe mit dem jüdischen Anwalt Arthur Löwenstein. Weder in dieser noch in der zweiten Skandalehe mit dem chronisch untreuen und krankhaft egozentrischen Carl Sternheim findet die junge Frau ihre Bestimmung. Umso intensiver sucht sie fortan Lebenshilfe und Erfüllung in Glauben, Kunst und Literatur. Dabei geht sie nicht nur rezeptiv vor, sondern hat das kreative Bedürfnis, das Geglaubte, Gelesene und Gesehene kommentierend zu durchdringen, mit den ihr Nahestehenden zu teilen oder selbst neu zu gestalten. In der bildenden Kunst erschließt sich die Autodidaktin ihren Zugang auf unterschiedlichsten Wegen: Sie besucht regelmäßig Ausstellungen und Museen, deren Eindrücke sie im Tagebuch oder Briefverkehr festhält, sie beginnt schon als junge Frau eine gigantische Anzahl kunsthistorischer Reproduktionen zu sammeln, sie nimmt in den Münchener Jahren vorübergehend Zeichenunterricht bei dem Maler und Graphiker Max Mayrshofer und sie baut mit Carl Sternheim eine eigene Kunstsammlung auf. (Daneben beginnt Thea Sternheim im Alter von 27 Jahren zu fotografieren und entwickelt in dem noch jungen Medium eine ambitionierte Porträtfotografie, der ein eigenen Kapitel gewidmet ist.) Weit entfernt von akademischer Stubengelehrsamkeit gelangt Thea Sternheim so zu dezidierten Geschmacksurteilen über die Kunst ihrer Zeit wie die der Vergangenheit. Mit ihrer ausgeprägten Vorliebe für Gotik und Moderne und ihrer Abneigung gegen alle dazwischen liegenden Epochen erhalten wir Einblick in eine ebenso konservative wie avantgardistische Haltung, und dank der Tagebuchaufzeichnungen auch in das gesamte Umfeld der damaligen Kunstwelt: Begegnungen mit Pablo Picasso, Henri Matisse und Chaim Soutine, Freundschaften mit Frans Masereel, Richard Oelze und Max Ernst, Kunstkäufe bei Alfred Flechtheim, Paul Cassirer, Daniel-Henry Kahnweiler und Paul Rosenberg, Kunstgespräche mit Hugo von Tschudi und Julius Meier-Graefe geben ein lebhaftes Bild vom frühen Kunsthandel in München, Berlin und Paris, dem damaligen Ausstellungs- und Museumswesen, der Kunstkritik und -geschichte sowie von vielen wichtigen Protagonisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Kunsthistorische Bildung
Bereits mit Anfang zwanzig beginnt sich die jung verheiratete Thea Löwenstein eine breite kunsthistorische Bildung anzueignen. In ihrer gemeinsamen Begeisterung für die bildende Kunst gerät der heimliche Briefwechsel mit Carl Sternheim während seiner beiden Italienreisen 1905 und 1906 zu einer Art kunsthistorischem Fernstudium für die Daheimgebliebene, während die eifrige Studentin ihrem Geliebten zu berichten weiß: »Ich habe meine Bilder geordnet. Es sind an die 5 Tausend und solche Menge beansprucht allerlei Arbeit und ich schlage nach und ich recherschiere und ich – finde.« Briefe Bd. 1, S. 518: Obercassel Montag Abend 29. 1. 06 (Brief 259).
Das Sammeln hochwertiger Kunstreproduktionen, die als Fotografien und in aufwendigen Edeldruckverfahren hergestellt und vertrieben werden, ist zu der Zeit in bildungsbürgerlichen Kreisen sehr beliebt. Helmut Heß: Der Kunstverlag Franz Hanfstaengl und die frühe fotografische Kunstreproduktion. Das Kunstwerk und sein Abbild, München 1999. Die qualitätvollen Farblichtdrucke werden als Mappenwerke verwahrt oder als gerahmte Einzelblätter aufgehängt. Der Umgang mit dem Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ist auch um die Jahrhundertwende wie schon zur Goethezeit noch sehr entspannt. Auf einem Foto von Thea Sternheims Pariser Wohnung aus den Vierzigerjahren sieht man über dem Sofa ihren Picasso ›La soupe‹ Herman de Cunsel vor Picassos ›La soupe‹ in Th. St.s Wohnung im Zentrum von reproduzierten Werken alter Kunst und gerahmten Schmetterlingen.
Thea Sternheim umgibt sich zeitlebens mit ihren Reproduktionen wie mit ihren Büchern und erwirbt sich auf diese Weise ein umfangreiches Bilderwissen, das sie im vergleichenden Sehen schult und durch biographische und wissenschaftliche Lektüre zu echter Kennerschaft entfaltet. Als Direktorin ihres eigenen Musée Imaginaire ist sie ständig mit dem Ordnen und Ergänzen ihrer Bestände beschäftigt und nimmt regelmäßige Neuhängungen vor. Aus diesem täglichen Umgang mit der Kunst gerät die Anschauung vor den Originalen, die sie in ihren wechselnden Wohnorten bei München, Brüssel, Dresden, Berlin, Paris und Basel und auf zahllosen Reisen durch Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien regelmäßig pflegt, zu wahren Kunsterlebnissen, von denen Thea Sternheim eindrucksvolle Schilderungen gibt.Th. St. vor ihrer Bilderwand, Waldhof, 1923, DLA Klingen die Eintragungen während ihrer vorgezogenen Hochzeitsreise mit Sternheim durch Südosteuropa 1907 noch stark nach Baedecker, so gewinnen ihre Beschreibungen zunehmend an Eigenständigkeit und Originalität: Vergleiche zwischen Kunst und Literatur – Rembrandts ›Saul und David‹ und Shakespeares ›Lear‹, TB 21. 9. 1909. Frans Hals und Molière TB 29. 9. 1909. – sind ebenso einleuchtend wie weitgespannte Genealogien von Frans Hals zu Vincent van Gogh TB 5. 10. 1909. oder von Paolo Uccello zum Zöllner Rousseau. TB 18. 1. 1945
Über den ästhetischen Genuss hinaus vollzieht und steigert sich ihr Kunsterlebnis in Bezug zum eigenen Leben. Angesichts der kleinen Berliner Kreuzigung in van Eycks Nachfolge fühlt Thea den unerträglichen Verzicht auf ihre beiden Kinder und insbesondere die zweitgeborene Tochter Sternheims, die sie mit ihrer ersten Ehe aufzugeben gezwungen ist: »Dieser Maler wusste, wie eine Mutter um ihr Kind weint. Ich habe an meine kleine Thea gedacht und um meine kleine Thea geweint. Mein Kind wird gross bei fremden Menschen, nicht bei Vater und Mutter. Gott im Himmel segne mir dieses Kind mit einer unerhörten Gnade!« (TB* 29. 5. 1907).
Aus dem persönlichen Erleben entwickelt sich gerade vor den frühen Niederländern eine Form der Betrachtung, die den Charakter von Andacht und Anbetung annimmt:
»Die gerahmte Reproduktion von Rogers Sakramentsbild kommt an. Diese Formulierung, die sich unter allem, was je über die Geheimnisse unseres Glaubens gesagt wurde, am weitesten in die Regionen des Unaussprechlichen vorwagt drängt meine Begeisterung in hingerissene Andacht.« (TB* 23. 1. 1931).
Unzählige Male beschwört Thea Sternheim in den vielen Krisen ihres Lebens den Schutz und Trost ihrer künstlerischen Nothelfer, so auch 1932, kurz bevor sie Berlin aus Ablehnung der Nationalsozialisten für immer verlässt: »Sehnsucht, meine Augen auf Vollendung ruhen zu lassen, wird so, dass ich früh zum Kaiser Friedrichmuseum fahre, um mir da aus Roger und von der Goes jene Antwort zu holen, die ich sonst auf der Welt nicht mehr finden kann. Roger, der die Werte reinlich unterscheidet, mit vollendetem Wissen Geistiges von körperlich Bedingtem sondert, der von der Gnade weiss, wird mir an diesem gottverlassenen Morgen Stärkung und Trost. Ob diese Stärkung noch ausreichen wird, mich über Wasser zu halten, steht dahin. Ich habe so übergenug von dieser mit düsteren Machtgelüsten aller Art angefüllten Welt. Wenn es einen Himmel gibt, muss Rogers Klarheit ein Abglanz dieses Himmels sein.« (TB* 13. 2. 1932).
Kunsthistorische Vorlieben: Gotik und Moderne
In der Verbindung zwischen individuellem Gefühlsausdruck, religiöser Inbrunst und verborgenem Symbolismus findet Thea Sternheim bei den frühen Niederländern genau die Mischung aus Gefühl, Geist und Intellekt, die sie immer wieder begeistern wird.
Allen voran Jan van Eyck und Rogier van der Weyden, aber auch der Meister von Flémalle, Hans Memling, Hugo van der Goes, Quentin Massys und Aelbert Bouts gehören zu ihren absoluten Favoriten, die sie wie Heilige verehrt. Die Kreuzabnahme Rogier van der Weydens, die sie zum ersten Mal 1932 auf ihrer Spanienreise mit ihrem Sohn Klaus zusammen im Escorial sieht, wird sie von da an immer als Reproduktion begleiten. Mit dem Tod ihres nach Mexiko emigrierten Sohnes 1946 wird das Altarbild für sie zum Inbegriff von Schmerz.
Eine ebenso herausragende Bedeutung nimmt das Originalbild eines dornengekrönten Christuskopfes ein, das Thea Sternheim 1917 bei einem Antiquar in Brüssel entdeckt und für einen Aelbert Bouts oder Quentin Massys hält. TB* 21. 11. 1917. Auch wenn sich das Bild, das Carl Sternheim seiner Frau zum 34. Geburtstag schenkt, weder identifizieren geschweige denn zuschreiben lässt, zieht sich mit dem Motiv des Dornengekrönten ein roter Faden durch Thea Sternheims Leben. Es ist das einzige Bild ihrer Sammlung, das sie durch alle Schwierigkeiten der Umzüge, Sequestrierung, Inflation, Emigration, Besatzung und der damit einhergehenden Verarmung hindurch gerettet und vermutlich bis zum Ende ihres Lebens bewahrt hat. Der letzte Eintrag findet sich im TB* 14. 6. 1963. Es gibt keine Erkenntnis darüber, wo das Bild nach Thea Sternheims Tod verblieben ist. Doch es ist nicht nur die besonders naturgetreue Darstellung, die das Leid in Mitleid verwandelt und damit von sich selbst abzusehen lehrt, sondern auch »die im Christentum wurzelnde Courtoisie«, die Thea Sternheim bei den »flämischen Primitiven« schätzt (TB 30. 12. 1936). In Auseinandersetzung mit Johan Huizingas Buch ›Herbst des Mittelalters‹, das sie 1936 mit Begeisterung liest, wird die christliche Tugend der Höflichkeit für sie zum Maßstab für Mitmenschlichkeit und Bollwerk gegen jede Form der Barbarei.
Wie sehr Thea Sternheims Vorliebe für die Malerei des 14. und 15. Jahrhunderts in der spätmittelalterlichen Spiritualität und Theologie wurzelt, zeigt sich auch noch in ihrer an Anbetung grenzenden Verehrung für Grünewalds Isenheimer Altar. Wie einen Blitzschlag erlebt sie 1919 ihre erste Begegnung mit dem Colmarer Altarbild, das 1917 aus »Sicherheitsgründen« nach München gebracht und nach Kriegsende für ein Jahr in der Alten Pinakothek ausgestellt worden war: »Was ich intensiv aus Reproduktionen, die doch immer nur begrenzt das Zeichnerische wiederzugeben imstande sind, ahnte, wird Realität. Mir geschieht Himmelfahrt […]« (TB 21. 8. 1919). Die überwältigende Erfahrung teilt Thea Sternheim mit Tausenden von Ausstellungsbesuchern, für die der Wandelaltar zum Sinnbild der deutschen Kriegserfahrung wird. »Nie können Menschen so zu einem Bild gewallfahrt sein; es sei denn in der Mitte des Mittelalters«, schreibt der mit Thea Sternheim aus der Brüsseler Zeit bekannte Kunstkritiker Wilhelm Hausenstein. Wilhelm Hausenstein: Der Isenheimer Altar, München 1919, S. 108. Seine Beobachtung deckt sich genau mit ihrer Erfahrung: »Zeitig auf Pilgerfahrt zu Matthias Grünewald. Und über Stunden laufende Andacht. Als das Licht wechselt, sitze ich noch da. Dies Bild ist Deutschlands, nein der Menschheit Aufschrei in die Ewigkeit.« (TB* 22. 8. 1919). In dem Hymnus ihrer ausführlichen Beschreibungen kommt nicht nur persönliche Ergriffenheit, sondern auch eine ikonographisch-theologische Auseinandersetzung zum Ausdruck, die sie bei der Lektüre von Oskar Hagens im selben Jahr erschienener Werkmonographie noch vertieft. TB* 25. 11. 1919. Nach der Rückführung des Altars nach Colmar wird Thea Sternheim bis kurz vor ihrem Tod immer wieder zum Unterlinden-Museum wallfahrten und in der Grünewald-Verehrung Joris-Karl Huysmans’ und Max Ernsts eine beglückende Bestätigung finden. TB 22. 8. 1936, TB* 6. 10. 1937; TB* 7. 10. 1937; TB 1. 9. 1963; TB 26. 8. 1969; TB* 1. 9. 1969.
Die gemeinsame Wurzel ihrer künstlerischen Vorlieben liegt für Thea Sternheim in der Gotik begründet. Denn: »Gothik heisst: es vollzieht sich auf möglichst beschränktem Raum Aufschwung nach oben; die Vertikale bis in die Wolken. […] Ist die Gothik nicht Europas Auge wie die Evangelien unser Herz sind? Bestimmter Vorsatz in mir, nie in einem Land Obdach zu suchen, wo um 1300 die Empfindung schlief. Wer da nicht wachte, dem mangelts an himmlischer Erfahrung.« (TB* 15. 2. 1919).
Die Offenbarung solcher mystischen Erfahrung wird Thea Sternheim in ihrer belgischen Wahlheimat zuteil, aus der sie 1919 mit den deutschen Besatzern zunächst nach Holland fliehen muss, das ihr mit Rubens und Jordaens zum verabscheuten Inbegriff einer materialistischen Kunstauffassung wird. Bis auf wenige Ausnahmen lehnt Thea Sternheim die gesamte Spätrenaissance und Barockmalerei ab, sogar Tizian, Velazquez und Rembrandt bleiben ihr weitgehend fremd. Vincent van Gogh›L’Arlésienne, Madame Ginoux‹, 1888 Dagegen spielen einzelne Heroen der frühen Neuzeit in unterschiedlichen Lebensphasen eine wichtige Rolle: Während sich Thea Sternheim in ihrer Jugend noch stark unter dem Einfluss Carl Sternheims mit Raffael und Michelangelo für die Großkünstler der italienische Hochrenaissance begeistert, gilt besonders Botticelli und den frühen Italienern ihre lebenslange Verehrung. Mit zunehmendem Alter nehmen »Bosch und Breughel als die meisterhaftesten Darsteller des Irrsinns« (TB 20. 9. 1950) eine immer wichtigere Bedeutung an. Von Boschs Triptychon ›Der Garten der Lüste‹ aus dem Escorial, das Thea Sternheim seit ihrer Spanienreise in höchsten Ehren hält, schenkt sie Gottfried Benn 1952 das Duplikat der Reproduktion ihres verstorbenen Sohnes. TB* 30. 10. 1952. Das Triptychon ›Der Garten der Lüste‹, um 1500, befindet sich heute im Museo del Prado, Madrid. »Dies Bild gehört zu den ganz grossen, unkontrollierbaren Dingen die je von Menschenhänden gemacht wurden – das reicht an Orcagnas ›Trionfo della morte‹, an Breughels ›Triumpf des Todes‹.« (TB 18. 7. 1953).
Von den Ekstasen und Abgründen, die Thea Sternheim im ›Garten der Lüste‹ ihrer zwanzigjährigen Ehe mit Carl Sternheim erlebt, bis zum ›Triumph des Todes‹, den sie in zwei Weltkriegen und mit dem Tod ihrer beiden Kinder durchleidet, ließe sich der dramatische Bogen ihres Lebens spannen. Immer wieder ist es die der Gottsucherin eigene Sehnsucht, das persönliche im allgemeinen Schicksal eingebettet zu wissen. Dabei zeigt sich das literarische Naturell Thea Sternheims auch in der bildenden Kunst stärker für die großen Erzählungen als die formalen Abstraktionen empfänglich. Der liebe Gott steckt für sie eher im drastischen Detail, in märchenhafter Archaik und paradiesischer Ursprünglichkeit als in barocker Opulenz und Vielschichtigkeit. Erst mit Théodore Géricault und Eugène Delacroix, dessen Tagebücher Thea Sternheim auf Anregung Meier-Graefes 1911 zu übersetzen beginnt und dessen ›Faust‹-Illustrationen sie ab 1913 in ihr Zimmer hängt, setzt ihr Interesse an der beginnenden Moderne wieder ein, für die sie sich ebenso leidenschaftlich wie gezielt engagieren wird.
Die Sammlung
Um ihrer »Liebe das sichtbare Denkmal zu setzen«, beginnen Carl und Thea Sternheim gleich im ersten Ehejahr, das schlossähnliche Anwesen ›Bellemaison‹ bei München zu errichten und eine bemerkenswerte Kunstsammlung zusammenzutragen. Andrea Pophanken: Privatsammler der französischen Moderne in München, in: Manet bis van Gogh – Hugo von Tschudi und der Kampf um die Moderne, Ausst.-Kat. Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin; Neue Pinakothek, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München, München / New York 1997, S. 424-431; Dies.: »Auf den ersten Kennerblick hin«. Die Sammlung Carl und Thea Sternheim in München, in: Die Moderne und ihre Sammler. Französische Kunst in deutschem Privatbesitz vom Kaiserreich bis zur Weimarer Republik, Berlin 1999, S. 251-266; Dies. /Andrea Bambi: »Van Gogh ist bei mir. Das ist ein lieber Gast!« Die Sammlerin Thea Sternheim, in: Kunstsammlerinnen: Peggy Guggenheim bis Ingvild Goetz, Berlin 2009, S. 45-58. Mit ihrer Ausrichtung auf die französische Moderne mit zwölf Bildern van Goghs als Herzstück zeugt sie von einem progressiven Geschmack, der sich im Gegensatz zur nationalkonservativen Kunstpolitik des jungen Kaiserreichs befindet.
Den fulminanten Auftakt zu ihrer Sammlung bildet 1908 van Goghs heute im Pariser Musée d’Orsay befindliches Bild ›L’Arlésienne‹, über dessen Ankauf Thea Sternheim berichtet: »Wir kauften in diesen Tagen die Arlésienne von van Gogh für dreizehntausend Mark. Ein so aufregendes Bild!« (TB 29. 3. 1908).
Das Bild der vor leuchtend gelbem Hintergrund mit aufgestütztem Kopf am Tisch sitzenden Südfranzösin Madame Ginoux wird zum Maßstab und Schlüsselbild der Sammlung, an dem Thea Sternheim in besonderer Weise gehangen hat. TB 31. 7. 1908: »In mein Zimmer hänge ich van Goghs Arlesierin. Es ist köstlich, Geld genug zu haben, um im Besitz eines solchen Kunstwerks zu sein. Der Gedanke packt mich plötzlich, dass die Arliesierin da allein in dem leeren Musikzimmer hängt; ich hole sie herbei und siehe da, sie erfüllt mit ihrem Wesen den ganzen Raum. Van Gogh ist bei mir! Das ist ein lieber Gast.« Umso schmerzhafter wird für sie 1914 der Verkauf für 125’000 Francs, um damit den Umbau des neuen Hauses in La Hulpe bei Brüssel finanzieren zu können. Ern, S. 207: »Der Verkauf gerade dieses Bildes kommt mir wie Verrat an dem Meister vor, aber wie sollen wir nach erneuten Zahlungen für den alten Sternheim, nach den durch ihn verlorenen drei Hypotheken den Umbau bestreiten?«
In den nicht einmal fünf Jahren in ›Bellemaison‹ (1908-1912) wird mit dem Millionenerbe von Thea Sternheim der Kernbestand der Sammlung zusammengetragen, die bis 1921 noch um einige erlesene Einzelwerke ergänzt oder durch Tausch verfeinert wird: Neben den zwölf Bildern van Goghs gehören dazu je zwei Bilder von Honoré Daumier, Pierre-Auguste Renoir, Paul Gauguin und Théodore Géricault, ein Stillleben von Henri Matisse, ein Strandbild von Maurice Denis, ein Mädchenkopf von Jean-Baptiste Greuze, eine Skulptur von Géricault und schließlich noch ein früher Picasso der blauen Periode. Siehe die Dokumentation am Schluss dieses Aufsatzes. Mit ihrer Vorliebe für den Impressionismus und Postimpressionismus schließen sich Sternheims dem Kampf um die Moderne an, der in Deutschland vor allem von Cassirer und Thannhauser, Meier-Graefe und Tschudi vorangetrieben wird. Manet bis van Gogh – Hugo von Tschudi und der Kampf um die Moderne, München / New York 1997 (wie Anm. 14). Hugo von Tschudi, der nach seinen ebenso bedeutenden wie umstrittenen Ankäufen für die Berliner Nationalgalerie 1909 an die Münchener Pinakothek wechselt, wird nicht nur für Sternheims zum einflussreichen Vorbild und verehrten Freund. Anlässlich seines Todes 1911 stiften sie zu seinem Gedenken ihren ›Don Quichote‹ von Daumier sowie 20’000 Mark für die Pinakothek. TB* 16. 2. 1912; Manet bis van Gogh (wie Anm. 14), S. 66 f. und S. 432 ff. Im Rahmen der »Tschudi-Spende« gelangt auch ihr zweites, zwischenzeitlich verkauftes Daumier-Bild, ›Das Drama‹ dorthin. Manet bis van Gogh (wie Anm. 14), S. 62 f.
Bei aller Begeisterung für die französische Moderne fehlt Thea Sternheim für die deutschen Künstler ihrer eigenen Generation hingegen noch jegliches Interesse und Verständnis. Den von ihrem Mann entdeckten Max Pechstein mit seinen Primärfarben findet sie einfach nur lächerlich. TB* 7. 11. 1911. Selbst die aufsehenerregende Ausstellung der expressionistischen Künstlergruppe ›Der Blaue Reiter‹ bei Thannhauser 1911 /12 erwähnt sie mit keinem Wort, obwohl sie wenig später die Bewunderung der Expressionisten für den gerade verstorbenen Henri Rousseau teilen wird. Weder zur expressionistischen Malerei deutscher Provenienz noch zur Abstraktion findet Thea Sternheim je Zugang.
Außer bei den deutschen Galeristen Thannhauser, Cassirer und Flechtheim kaufen Sternheims vor allem im Pariser Kunsthandel. Dabei steht ihnen Julius Meier-Graefe als Experte für die französische Kunst des 19. Jahrhunderts gelegentlich als Berater zur Seite, dem Thea Sternheim jedoch durchaus nicht unkritisch gegenübersteht. Beim Ankauf von Renoirs ›Clown au cirque‹ von 1868 bei Vollard setzt sie sich über seinen Rat hinweg, stattdessen das große Frühstück von Manet bei Durand-Ruel zu erwerben. TB 29. 9. 1908. Dass es sich hierbei um die kleinere Fassung von Manets ›Déjeuner sur l’herbe‹ im Londoner Courtauld Institute handelt, ist eher unwahrscheinlich. Nicht die kunsthistorische Bedeutung, sondern die persönliche Vorliebe für das Frühwerk Renoirs gibt den Ausschlag, das sie sehr wohl von der »Limonadenstimmung« seines Spätwerks unterscheidet. TB 16. 5. 1912. Im Falle van Goghs haben Sternheims 1909 die Gelegenheit, in Amsterdam bei Johanna van Gogh-Bonger, der Schwägerin Vincents und Ehefrau seines Bruders Theo van Gogh, vier Bilder direkt aus dem Nachlass zu erwerben: ein frühes Selbstbildnis auf Pappe von 1887, ›Nature morte‹ von 1888, ›Mas à Saintes-Maries‹ von 1888 und ›Châtaignier en fleurs‹ von 1890. TB 21. 9. 1909. Als Besitzer der mittlerweile größten van Gogh-Sammlung in Deutschland mit einem Schwerpunkt auf den in Arles entstandenen Werken Walter Feilchenfeld: Vincent van Gogh & Paul Cassirer, Berlin: The reception of van Gogh in Germany from 1901 to 1914, Zwolle / Amsterdam 1988. leihen Sternheims 1912 allein fünf Bilder für die legendäre Sonderbundausstellung in Köln aus. 1912 Mission Moderne, Die Jahrhunderschau des Sonderbundes, Ausst.-Kat. Wallraf-Richartz-Museum und Fondation Corboud, Köln 2012: de la Faille 410, 420, 485, 489, 566. Dort erwerben sie für 4’000 Mark aus der Ausstellung Gauguins Stillleben ›Les trois petits chiens‹ (1888), das sich heute im Museum of Modern Art in New York befindet. TB 26. 5. 1912. Da das Bild eines liegenden Tahiti-Mädchens’ ›Nevermore‹, das Thea Sternheim um jeden Preis besitzen möchte, nicht verkäuflich ist, erwirbt sie 1916 bei Flechtheim mit ›Bretonne en prière‹ (1894) ihren zweiten Gauguin. TB 5. 3. 1916, 12. 4. 1916, 19. 9. 1930. Im selben Jahr wird sie für das bedeutende Porträt ›Le facteur Roulin‹ (1888) ein anderes van Gogh-Bild bei Paul Cassirer in Zahlung geben. TB 20. 1. 1916.
Der Verkauf von »Bellemaison« für 650’000 Mark im Jahr 1912 ermöglicht es Sternheims, nicht nur einen Teil der schwiegerväterlichen Schulden zu übernehmen, sondern drei weitere herausragende Bilder zu erwerben: Renoirs ›Femme dans un jardin‹ von 1868, van Goghs ›Les amoureux‹ von 1888 und Matisses ›Corbeille d’oranges‹ von 1910. Mit dem Erwerb des kaum zwei Jahre zuvor entstandenen Stilllebens von Matisse bei Bernheim-Jeune beginnen sich Sternheims nun auch für die jüngste Kunstentwicklung zu begeistern und gehören damit zu den ersten Matisse-Sammlern Deutschlands. Andrea Bambi, (s. Anm. 14), S. 50; Margarit Hahnloser-Ingold: Matisse und seine Sammler, in: Henri Matisse, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich 1982-83, S. 41-63, S. 50 ff.
Mit dem Umzug nach Belgien ist jedoch der Höhepunkt ihrer Sammeltätigkeit bereits überschritten. Bis auf die beiden bedeutenden Neuerwerbungen von Gauguin und van Gogh werden nur noch wenige Bilder, die beiden Géricaults und das Mädchen von Greuze, gegen Thea Sternheims Wunsch angekauft. TB* 21. 11. 1917,
TB 28. 4. 1918.
Um ihr Vermögen vor der Beschlagnahmung zu sichern, sehen sich Sternheims nach dem Ersten Weltkrieg 1919 gezwungen, etliche Bilder auf die Auktion in Amsterdam zu geben, von denen jedoch nur drei verkauft werden. van Gogh – Gauguin – Renoir. Collection Mme Théa Sternheim, près Bruxelles, Auktionskatalog Frederik Muller & Cie 11. Februar 1919 Amsterdam; TB 14. 2. 1919: »Das Resultat unserer Amsterdamer Vente: der Clown, die Hütten, das Van Goghsche Selbstbildnis verkauft. Alles andere kommt uns zurück.« Das unbefriedigende Auktionsergebnis wird sich jedoch schon bald als Glück erweisen, da Thea Sternheim die durch Inflation, Scheidung und Emigration erlittenen Vermögensverluste seit Ende der Zwanzigerjahre und im Laufe der Pariser Kriegs- und Nachkriegsjahre durch den stückweisen Verkauf ihrer Sammlung zumindest abfedern kann.Paul Gauguin: ›Nature morte avec trois petits chiens‹, 1888
Kunstszene der Weimarer Republik: Berlin der Zwanzigerjahre
In den »goldenen Zwanzigern« wird Berlin immer mehr zum Anziehungspunkt für Carl und Thea Sternheim, die nach ihrer Scheidung 1927 ganz in die Theater- und Kunstmetropole zieht. In der Berliner Kunstszene zählt die Galerie von Alfred Flechtheim zu den ersten Adressen der Stadt. Daran ist Thea Sternheim insofern nicht ganz unbeteiligt, als sie dem kunstbegeisterten Getreidehändler schon in ihrer Düsseldorfer Zeit zu dieser Laufbahn geraten hat. Ern, S. 110. In ihrer freundschaftlichen Beziehung zu Flechtheim schätzt Thea Sternheim sein selbstbewusstes und selbstironisches Judentum ebenso wie sein leidenschaftliches Temperament, das er mit dem am selben Tag geborenen Carl Sternheim teilt. In der Galerie Flechtheim sieht Thea Sternheim nicht nur Ausstellungen Picassos und der bewunderten Franzosen Matisse, Cézanne, Toulouse-Lautrec, Rousseau, Léger, Gris, Rodin, sondern lernt auch die deutschen Künstler George Grosz, Otto Dix und besonders Max Ernst kennen und schätzen. Aber auch sie wird für Flechtheim zur Anregerin. Insbesondere für den von ihrem Mann geschätzten Conrad Felixmüller und den von ihr für sein Frühwerk verehrten Frans Masereel setzt sie sich ein.