»Schaffen dürfen!
schaffen können!«
Die Autorin Thea Sternheim (1883-1971)
Tagebuch- und Briefschreiberin, Lektorin und Beraterin, Übersetzerin, Verfasserin von Essays, Romanautorin: Die schriftstellerischen Tätigkeiten Thea Sternheims erstrecken sich über Jahrzehnte, sind sehr breit und vielfältig. Sowohl die Tagebücher (1903-1971) Thea Sternheims als auch ihr Roman ›Sackgassen‹ (1952) können im wörtlichen Sinne als Lebenswerke der Autorin bezeichnet werden, deren Niederschrift sie während Jahrzehnten beschäftigt und die sie als Lebensaufgaben verstanden hat. Diese beiden Werke sollen im Folgenden vorgestellt, inhaltliche Berührungspunkte und Bezüge aufgezeigt werden. »Vermutlich wird die Rolle, die ein anderer in unserem Leben spielt, von den eigenen Sehnsüchten bedingt. Jedenfalls zog mich die schöpferische Begabung im Anderen am elementarsten an«, notiert Thea Sternheim am 10. November 1967 in ihr Tagebuch. Eine schöpferische Begabung bedeutet für Thea Sternheim jedoch nicht nur ein Privileg, sondern auch eine Verpflichtung. Ihr Wunsch, selbst ein Kunstwerk zu schaffen, ihr Bedürfnis, anderen mitzuteilen, was für sie von Bedeutung ist, begleiten sie während ihres ganzen Lebens – ebenso die inneren und die äusseren Hemmnisse, diesen Wunsch umzusetzen. »In seiner Handlung trag ich das ganze Büchlein [den Roman] fertig in mir. Aber der Ausdruck! Werde ich Geduld zur Formulierung haben und vor allem die Möglichkeit, das, was mir so am Herzen liegt, mitzuteilen?« (TB 23. 11. 1919). Die Losung »Schaffen dürfen! schaffen können!« (TB 12. 11. 1912) ist deshalb ein wichtiges Leitmotiv für Thea Sternheims Leben und Werk.
Zunächst sei hier auf einige charakteristische Merkmale des Tagebuchs verwiesen. Allein wegen seines Umfangs und wegen der langen Zeit, die es abdeckt – rund 68 Jahre – gehört es zu den bedeutendsten diaristischen Werken des 20. Jahrhunderts.
Aussergewöhnlich ist schon die Gestalt, die Form des Tagebuchs: Die Autorin benutzte während diesen rund 68 Jahren immer dasselbe querformatige und gelochte Papier. Am Ende eines Lebensjahres, also jeweils am 24. November, wurden die beschriebenen Seiten mit einer Kordel und zwei Kartondeckeln zu Bänden gebunden. Die 63 handschriftlichen Bände werden im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt. Die gedruckte Edition enthält etwa ein Drittel der Aufzeichnungen (s. die Angaben im Siglenverzeichnis unter TB). Von diesem Prinzip weicht lediglich der erste Band ab; er enthält Einträge aus den Jahren 1903-1909. Bis 1908 führt Thea Sternheim ihr Tagebuch noch nicht regelmässig, erst ab etwa 1910 schreibt die Autorin praktisch täglich. Das Tagebuch enthält nicht nur einen fortlaufenden eigenen Text; die Autorin hat zahlreiche Briefe – die sie selbst schreibt oder empfängt – wörtlich abgeschrieben. Diese Briefe bilden somit einen integralen Bestandteil ihres Tagebuchs. In einige Bände hat Thea Sternheim selbst aufgenommene Fotos – Porträts von Familienangehörigen und ihr nahestehenden Menschen – sowie Briefe und Zeitungsartikel meist politischen Inhalts eingeklebt.
Wer Tagebuch führe, schreibe niemals nur über sich selbst, er schreibe auch über seine Zeit, stellt Rainer Wieland im Vorwort zum ›Buch der Tagebücher‹ fest. Vgl.: Das Buch der Tagebücher, ausgewählt von Rainer Wieland, München/Zürich 2010, S. 9. Dies gilt in hohem Masse für die Tagebücher Thea Sternheims: Die Autorin schreibt ebenso über Alltägliches, über das Familienleben, über ihre Lektüren und Begegnungen mit Menschen wie über die politischen Ereignisse und Katastrophen der ersten zwei Drittel des 20. Jahrhunderts. In den frühen Jahren überwiegen private Aufzeichnungen. Thea Sternheim ist eine hingebungsvolle Mutter, sie verbringt viel Zeit mit ihren Kindern. Sie schreibt über ihr Zusammenleben mit Carl Sternheim, über ihre Mitarbeit an seinem literarischen Werk sowie über Auseinandersetzungen mit ihm, in denen Differenzen unüberwindbar sind – etwa in Fragen der Religion oder der ehelichen Treue. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellt eine Zäsur in Thea Sternheims Leben dar. Noch 16 Jahre später, am 3. August 1930, erinnert sie sich des Kriegsausbruchs als »jenes fürchterlichen Risses in unserem Leben«. Das Kriegsgeschehen erschüttert sie zutiefst, schärft aber gleichzeitig auch ihr politisches Bewusstsein. Sie liest Zeitungen und äussert sich zunehmend zu politischen und gesellschaftpolitischen Themen. Religiöse Betrachtungen und eine vertiefte Auseinandersetzung mit religiösen Fragen haben im gesamten Tagebuch einen hohen Stellenwert.
Als Tagebuchautorin reiht sich Thea Sternheim in eine jahrhundertelange europäische (bzw. westliche) Tradition. Die Inhalte der Diarien sind ebenso unterschiedlich wie die Motivation, mehr oder weniger täglich Beobachtungen, Reflexionen, Begegnungen, persönliche Erlebnisse und Gedanken usw. zu notieren. Nicht wenige Schreibende, vor allem prominente, führen ein Tagebuch im Hinblick auf eine Publikation. Andere wiederum vernichten ihre Aufzeichnungen, wie etwa Thomas Mann, der als Zwanzigjähriger an einen Freund schreibt: »Ich habe es dieser Tage bei mir ganz besonders warm, ich verbrenne nämlich meine sämtlichen Tagebücher –!« Ebd., S. 7. Thea Sternheim hat ihr Tagebuch nicht geschrieben in der Absicht, es zu veröffentlichen, sie hat sich vielmehr wiederholt mit dem Gedanken getragen, es zu vernichten. Die Tatsache, dass sie ihre Aufzeichnungen in der beschriebenen Art zusammenband und immer dasselbe Papier benutzte, spricht aber dafür, dass sie ihr Tagebuch als »Werk« verstand, und verweist auf den Wert, den sie ihm zumass. Bemerkenswert ist zudem die akkurate, fast kalligraphische Schrift, die – im Vergleich zu Tagebüchern von anderen Schriftstellern – in der Regel gut lesbar ist. Die einzelnen Tagebücher sind auch sorgfältig hergestellte ästhetische Objekte.
Thea Sternheims Wertschätzung bezieht sich jedoch nicht nur auf das eigene, sondern allgemein auf das Tagebuch als literarisches Genre. Am 14. April 1918, im besetzten Belgien lebend, notiert Thea Sternheim: »Der Reiz an einem Menschen ist für mich in jedem Fall sein geistiger Besitz, sein Hausrat an Gedanken, an Aufgezeichnetem. In erster Linie stelle ich das Tagebuch, Briefe, Manuskript. Ich gäbe jede kostbare, jede Erstausgabe hin für ein handschriftliches Wort, eine persönliche Erinnerung.« Und mehr als 18 Jahre später schreibt sie nach einem Gespräch mit Julien Green, den sie als Schriftsteller und Diaristen sehr schätzt: »Julien ist wie ich der Meinung, dass ein Leben ohne Tagebuch gar kein wahrhaftes Leben wäre. Wir kommen zum Schluss, dass die Führung eines Tagebuchs das Glück tiefer, jedes Leid erträglicher macht.« (TB 15. 12. 1936). Bereits aus früheren Einträgen geht klar hervor, dass für Thea Sternheim das Führen eines Tagebuchs eine schlichte Notwendigkeit ist und dass es sie bekümmert, wenn familiäre Verpflichtungen oder äussere Umstände sie daran hindern. So notiert sie am 18. Juli 1913: »Ich komme nicht mehr dazu mein Tagebuch zu schreiben. Treppauf, treppab. Der Unterricht. Besorgungen. Die Zeit rast hin. Abends im Bett nur ein paar Stunden für mich.« Und am 29. Mai 1925 meint sie, die Gewohnheit des Tagebuchführens sei ihr ein »Muss«; wenn sie nicht zum Schreiben komme, laste dies als »Unterlassungssünde« auf ihr.
Die Hochschätzung des Tagebuchs und die (selbst auferlegte) Verpflichtung, es zu führen, hindern Thea Sternheim nicht daran, das regelmässige Schreiben zu hinterfragen, »Schrieb ich früher Tagebuch aus Ambition, aus dem Bedürfnis über mich selbst klar zu werden, vielleicht aus Eitelkeit Karls Frau zu sein, so schreibe ich heute ganz und gar nur noch im Hinblick auf irgendeinen Menschen, den ich wahrscheinlich noch gar nicht kenne, um ihm durch Aufschlüsse zu helfen, wie mir die Heiligen geholfen haben.« (TB 5. 4. 1920). erstmals in einem Eintrag vom 5. September 1918: »Für wen schreibe ich eigentlich dies Tagebuch? Für mich vorerst. Und dann für wen? Vielleicht für keinen, vielleicht geb ich’s weder Karl noch den Kindern und zerstör’s.« Vor allem als alte Frau denkt Thea Sternheim über die Vernichtung ihrer Tagebücher nach. »Er [Bernhard Zeller] beginnt von meinen Tagebüchern zu reden. Ich zeige sie ihm. Er steht betroffen vor dem geöffneten Schrank und fleht mich an auch diese Bücher dem Archiv zu schenken. Ich sage ihm dass ich schon selbst daran gedacht hätte aber noch immer nicht wüsste ob ich diese zum Teil sehr privaten Aufzeichnungen vernichten oder erhalten würde.« (TB 23. 4. 1964). Erst nach langem Zögern lässt sie sich von Bernhard Zeller, dem damaligen Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach, sowie den Sternheimforschern Wolfgang Wendler und Manfred Linke überzeugen, ihre Tagebücher dem Literaturarchiv zu übergeben.
In vielen Einträgen erwähnt Thea Sternheim, sie lese Auszüge in alten Tagebüchern, die sie vor vielen Jahren niedergeschrieben habe. Diese Relektüren führen oft zu schonungslosen Einsichten, zum kritischen Hinterfragen des eigenen Handelns: »Ich lese in alten Tagebüchern. Das ist Gewissenserforschung, aber da keine Möglichkeit des Selbstbetrugs bleibt, eine schmerzlichere, als die rein gedankliche die man hin und wieder vorzunehmen bedürftig ist. Bildete ich mir doch immer ein, trotz aller Verirrung ein über das Durchschnittsmaß anständiges Leben geführt zu haben. Jetzt schaudere ich beim Einblick.« (TB 27. 3. 1917). Hier wird deutlich, dass das Lesen früherer Aufzeichnungen der Prüfung des Gewissens (einem gleichsam religiösen Vorgang) dient, im weiteren Sinne auch der Lebensbewältigung. »Alte Tagebücher lesen d. h. mit Demut, oft mit Entsetzen feststellen, aus welchem Wust von Trieben, Schwermut, von aufgezwungenen Strömungen sich unser Dasein zusammensetzt. Das furchtbare Absinken des deutschen Geschicks ins Tragische: Der Deutsche, der des Hirten Stimme aus dem politischen Gekreisch nicht mehr zu hören vermochte.« (TB 8. 2. 1945). Ihrer zwölfjährigen Tochter empfiehlt Thea Sternheim, ein Tagebuch zu führen »Ich rate ihr ein Tagebuch zu schreiben, aber ein aufrichtiges, möglichst tägliches. Selbsterkenntnis, in den [!] sie niemand Einblick gewährt. Auch mir nicht. ›Denn sonst kannst Du nicht vollkommen wahrhaftig sein.‹« (TB 22. 4. 1917).– den Rat erteilt sie Mopsa am Tag von deren Erstkommunion, die in der katholischen Kirche Sakrament und Initiation bedeutet. Auch den Sohn Klaus, den sie selber unterrichtet, hält sie dazu an, ein Tagebuch zu schreiben, mit der eher alltagspraktischen Begründung, er könne sich so im Denken und Schreiben üben. Das Kindertagebuch von Klaus Sternheim aus den Jahren 1915 /16 ist illustriert mit kleinen gemalten Bildern von Thea Sternheim und befindet sich heute ebenfalls im Deutschen Literaturarchiv Marbach.
Das Wiederlesen von alten Tagebüchern führt aber nicht nur zum Nachdenken über das eigene Leben, sondern es erlaubt der Autorin auch, Ereignisse der äusseren Welt, insbesondere gesellschaftliche und politische, zu reflektieren und miteinander in Verbindung zu bringen. So notiert sie etwa am 18. März 1935: »[…] die unvorsichtige Lektüre einiger Tagebücher aus der Kriegszeit, die furchtbare Ähnlichkeit der damaligen Mentalität mit dem was wie Fettaugen auf der Bouillon schon wieder auf der öffentlichen Meinung aller Länder zu schwimmen beginnt, regt mich plötzlich bis zu Tränen auf.«
Wie das Wiederlesen ist auch das Abschreiben von Texten eine Schreibpraxis, die es Thea Sternheim ermöglicht, sich über etwas klar zu werden, sich zu vergewissern. Das Abschreiben von Briefen in das eigene Tagebuch wurde bereits erwähnt. Thea Sternheim schreibt auch die Tagebücher ihrer Tochter Mopsa nach deren Tod (1954) im Jahre 1955 ab, ein schmerzhaftes und schwieriges Unterfangen. So notiert sie am 20. September 1955: »Ich kopiere, wie ich vor Jahren Klaus’ Roman zu kopieren begann. Da ist vor allem der Drang Mopsa gerecht zu werden, à posteriori zu begreifen, was ich zeitlebens von ihr nicht begreifen konnte. Wird es gelingen, werde ich noch Zeit dazu haben?« Schwierig ist die Abschrift auch aus formalen Gründen, denn Mopsa ist im Gegensatz zu ihrer Mutter keine disziplinierte Tagebuchschreiberin gewesen. Sie hat Hefte verschiedenen Formats benutzt, manchmal mehrere gleichzeitig, sie von hinten und von vorne beschrieben. Die Datierung ist zudem lückenhaft und wenig zuverlässig. Die Originale präsentieren sich chaotisch, und Thea Sternheim muss in der Abschrift wohl häufig ordnend und somit interpretierend eingreifen.
Der erste datierte Tagebucheintrag Thea Sternheims stammt vom 7. Januar 1905, das ist drei Tage vor der Geburt der Tochter Dorothea (genannt Moiby oder Mopsa). »Ich fühle, dass es sich erfüllen wird. Nur noch Tage und ich werde sehr glücklich oder sehr unglücklich sein. Vielleicht beides; denn ich bin doch so allein mit diesem Kinde. Oder ob der süsse Begriff ›Mutterschaft‹ mich auch von dieser Sehnsucht und diesem Einsamsein erlöst?« (TB 7. 1. 1905). Die junge Frau ist zu diesem Zeitpunkt noch mit ihrem ersten Ehemann, Arthur Löwenstein, verheiratet. Der Vater ihrer Tochter ist jedoch der Schriftsteller Carl Sternheim, den sie im Frühjahr 1903 kennengelernt hat. Im Laufe des Jahres 1904 verliebt sich Thea Löwenstein leidenschaftlich in Sternheim. Die beiden Liebenden schreiben sich Briefe, können sich aber bis 1906 nur selten treffen. Gemeinsame Interessen, etwa für Kunst und Literatur, wirken verbindend; im Juli 1907 lassen sie sich trauen. Die Ehe und das Zusammenleben mit Sternheim sind von Anfang an schwierig und konfliktreich, was in vielen Tagebucheinträgen zum Ausdruck kommt. Thea Sternheim fällt ihren Entschluss, ein Tagebuch zu führen, also in einem Moment, der für ihr Leben in zweifacher Hinsicht einschneidend und prägend ist: die Geburt ihrer Tochter Mopsa und ihre Beziehung zu Carl Sternheim. Zu ihrer Tochter wird sie ein zunächst sehr inniges, in späteren Jahren zunehmend kompliziertes Verhältnis haben: Verbundenheit und Nähe wechseln sich ab mit Ablehnung und Unverständnis aufgrund der sehr unterschiedlichen Charaktere. Die Entwicklung und die Ambivalenz der Beziehung Mutter-Tochter sind während Jahrzehnten ein wichtiges Thema in Thea Sternheims Tagebuch.
Der Roman ›Sackgassen‹ hat eine lange Vorgeschichte; am Anfang steht eine Erzählung, die Thea Sternheim erstmals in ihrem Tagebucheintrag vom 2. Februar 1916 erwähnt: »Ich lache mit Karl: Ich schreibe auch eine Erzählung. Setze mich hin und schreibe die ersten Seiten von Annas Kinderleben. Und lese sie abends mit rotem Kopf und bebender Stimme Karl vor, der sie gut findet und mich lobt.« Unter dem Namen von Carl Sternheim erscheint ›Anna‹ zusammen mit Sternheims Erzählungen ›Geschwister Stork‹ und ›Meta‹ im Februar 1917 in einem Band mit dem Titel ›Mädchen‹ Carl Sternheim: Mädchen. Mit vierzehn Lithografien von Ottomar Starke, Leipzig 1917. im Verlag Kurt Wolff. Dass die Erzählung ‚Anna‹ aus Thea Sternheims Feder stammt, wird erst 1920 mit deren Übersetzung ins Ungarische bekannt. Thea Sternheim: Anna. Regény, Fordítás Bardócz Arpád, Angerbauer Roland, Timisoara [Temesvár]: Moravetz 1920 (Pán Könyvtár, Bd. 3).
Ab 1919 äussert die Autorin in ihrem Tagebuch den Wunsch, den Stoff zu erweitern und in eine neue Form zu bringen: »Sehnsucht in mir den zweiten Teil Anna zu schreiben, überhaupt Drang, das, was mich jetzt so intensiv bewegt, dass es den Eindruck der richtigen äusseren Ereignisse ganz verdrängt, in Worte zu fassen und es somit auch für andere (welche andere?) auszusprechen.« (TB 20. 6. 1919). In den folgenden 35 Jahren und mit grossen Unterbrechungen überarbeitet Thea Sternheim ihre Erzählung ›Anna‹ und schreibt an ihrem Roman, der erst im Jahre 1952 unter dem Titel ›Sackgassen‹ im Limes Verlag, Wiesbaden, publiziert wird. Die Seitenangaben beziehen sich auf die Erstausgabe. Der Roman wurde wiederaufgelegt als Band 5 in der Reihe ›Spurensuche. Vergessene Autorinnen wiederentdeckt‹, hrsg. von Monika Melchert, mit einem Nachwort von Regula Wyss, Berlin 2005.
Hauptperson der Erzählung ist das Mädchen Anna, die ihre Mutter 1900 mit zehn Jahren verliert. Die nun elternlose Anna wird von ihrer Schwester Frieda und deren Mann, dem Lehrer Mücke, aufgenommen. Anna muss arbeiten wie eine Dienstbotin, sie wird von Mücke schikaniert und kontrolliert. Der deutschnational gesinnte Lehrer neigt zu Jähzorn und wird Anna gegenüber gelegentlich handgreiflich, während Frieda sich duckt und sich Mücke unterwirft.
Das Mädchen besucht regelmässig die Kirche und verliebt sich in den jungen Kaplan, der dem heiligen Aloisius von Gonzaga gleicht. Der Kaplan ist krank, er muss zur Kur, und als sie ihn nach ein paar Wochen wiedersieht, stark verändert von der Krankheit und den Medikamenten, ist Anna enttäuscht. »Welche Macht hatte die Binde von ihren Blicken gerissen, von seiner Stirn den Glanz, dass von ihm, dem Fels, auf den sie gebaut, nichts blieb als unter Männern ein Mann?« (Anna S. 39). Jeder Illusion beraubt, verliert das Mädchen zur gleichen Zeit auch seinen kindlich-frommen Glauben.
Als Mückes Vater stirbt, zieht die Familie um in dessen Villa. Weil diese sehr gross ist, werden zwei Zimmerherren aufgenommen: Felix, der Untersekundaner, wird vom Ehepaar Mücke geschätzt und wie ein Sohn behandelt. Der zweite Mieter ist der Franzose Ducal: ein gut vierzigjähriger Melancholiker, der zurückgezogen in zwei abgelegenen Zimmern der Villa lebt. Ducal fühlt sich fremd und unbehaglich bei Mückes und kündigt schliesslich. Als er auszieht, hinterlässt er Anna eine Kiste Bücher: Stendhal, Joris-Karl Huysmans, Molière, Balzac, Maupassant … und schliesslich: ›Correspondance de Gustave Flaubert‹ in vier Bänden.
Kurz nach der Geburt ihres Sohnes Bernhard wird Frieda, inzwischen eine vergrämte Frau, krank, und von Anna bis zu ihrem Tod gepflegt. Danach denkt die junge Frau nur noch daran, das Haus Mücke zu verlassen. Sie findet eine Stelle an einer belgischen Mädchenschule. Um sich den dreisten Blicken von Mitreisenden im Zug zu entziehen, nimmt sie die Briefe von Gustave Flaubert zur Hand. Dieser schreibt am 7. April 1848 an den Schriftsteller Maxime Du Camp über den Tod seines Freundes Alfred Lepoittevin. Anna ist sogleich gefesselt: »Mit einem Vorgeschmack himmlischen Glücks« liest sie das Buch zu Ende, »dass sie in Flammen stand, und aller Kleinmut vergangener Zeiten auf einmal verschwunden war.« (Anna S. 58).
Auf dem Fundament dieser knapp fünfzigseitigen Erzählung baut Thea Sternheim ihren Roman ›Sackgassen‹ auf. Es ist kein autobiographischer Roman im herkömmlichen Sinn, jedoch greift Thea Sternheim auf die ihr wichtigen Lebenserfahrungen und Erkenntnisse zurück in der Absicht, diese dem Lesepublikum nahezubringen. »Hätte ich nicht noch viel, unsagbar viel mitzuteilen? Gibt es nicht Augenblicke, wo es mir sogar wesentlich scheint, dass ich das, was mein Herz weissglüht, auch aufzuzeigen vermöchte? Würde ohne diese Aufzeigung mein Leben im letzten Sinne nicht steril gewesen sein?« (TB 1. 9. 1932). Über den Inhalt und die Handlung des Buches ist sich die Autorin in all den Jahren sicher; sie ringt aber immer wieder mit dem Ausdruck, der Formulierung »Ich schreibe auf der Maschine ›Anna‹ ins Reine. Und liebe das Werdende, wie man ein Kind liebt. Alles ist visionär schon in mir vollendet. Es ist nur noch auszutragen. Dabei bin ich ungeduldig, immer angstvoll, ob auch der Ausdruck gelingt. Karl danke ich seine Geduld, mit der er mein oft unbeholfenes Deutsch, meine nicht abzuwerfenden Rheinlandismen in vernünftige Sprache ändert.« (TB 19. 12. 1922). und nimmt Ratschläge zur sprachlichen und stilistischen Gestaltung des Buches dankbar auf. Als Sternheim ihr aber vorwirft, sie verharre starrköpfig auf einer falschen Fortentwicklung des Buches, antwortet sie: »[…] da ich doch das Buch schreibe, kann es doch kein récit à la Maupassant werden; ich kann nur das Tiefempfundene, Erlittene, das was ich aus meiner begrenzten Erfahrung weiss, geben.« (TB 1. 2. 1926).